Zuerst beobachtete er, dass seine Freunde und Verwandten freudiger denn je waren. Das fand er wirklich mitreißend! Tagelang kehrten sie unbändige Begeisterung hervor. Sie riefen Sal an, luden ihn zu sich ein oder wurden an der Haustür vorstellig. Maria jedoch hielt sich und ihn vehement – ja sogar mit Gewalt – im Haus eingesperrt. Sie wies auf verschiedene Symptome hin, die man nicht einfach so ignorieren konnte. Über mehrere Tage hinweg wurde die Außenwelt vor Sals Tür ohne sein Zutun immer glücklicher. Die Betroffenen lachten, fielen einander in die Arme und schienen zur Gänze mit Glück erfüllt zu sein. Jeder, außer ihm und seiner fanatischen Frau, so schien es, erfuhr die glücklichste Zeit seines Lebens.
Die Glücklichen mauserten sich rasch zu einer überbordenden Mehrheit der Bevölkerung. Einige wenige wunderbare Tage lang war die Erde ein besserer Ort als je zuvor. Sal hingegen musste aus seinem langweiligen, stickigen Haus zuschauen.
Dann aber wurden die Glücklichen allmählich zu überschwänglich. Sie lebten sich auf extreme Weise aus, frönten jedwedem Laster und stillten ihre Begierden in ausschweifendem Maße. Im Nu verwandelte sich die Welt in einen fiebrigen, orgiastischen Albtraum. Niemand ging mehr zur Arbeit, niemand schien mehr zu schlafen, niemand redete mehr, weil der Planet zu einem Ort konstanten Getöses und Gelächters, ständiger Jubelschreie und plärrender Musik verkommen war. Die Straßen quollen über vor Menschen, die Drogen nahmen, Sex miteinander hatten und allen erdenklichen Schlechtigkeiten nachgingen. Sie prügelten sich, vergewaltigten, rasten mit ihren Autos durch die Gegend – alles, was man sich vorstellen konnte.
Während Sal Nachrichten schaute, gewann er den Eindruck, die Infektion sei allerorts von jetzt auf gleich aufgetreten. Die Kranken steckten ihr Umfeld schnell an, also wurden weite Teile des Planeten zum gleichen Zeitpunkt befallen. Beim Anblick der Szenen im Fernsehen dämmerte ihm, was seine Frau schon seit Tagen predigte: Das war eine ernste Angelegenheit.
Die Infektion breitete sich so rasch aus, dass die Welt binnen weniger Stunden ins Chaos abrutschte. Trotz der Tatsache, dass die Zivilisation zusammenbrach, glaubten immer noch viele Menschen, was gerade geschah, sei eine gute Sache, und trafen keinerlei Vorkehrungen. Nun trugen sie die Konsequenzen.
Sal sollte im Lauf der kommenden Tage noch viele Male die gleichen Dinge hören, die ihm seine Frau schon länger vorbetete. Allem Anschein nach breitete sich das Virus hauptsächlich über den Kontakt mit Körperflüssigkeiten aus. Wie es schien, bestand schon eine hohe Wahrscheinlichkeit der Infektion, wenn man jemanden umarmte und seine Ausdünstungen berührte. Da die Betroffenen hohes Fieber bekamen, begannen sie, stark zu schwitzen. Indem sie miteinander rangen oder schliefen, steckten sie sich gegenseitig an.
Die Zügellosigkeit hatte zur Folge, dass die Krankheit viele Todesopfer forderte. Schwere Unfälle geschahen. Es kam zu Drogenexzessen, man vergaß, wichtige Arzneimittel einzunehmen, und erlitt Verletzungen durch Gewalt. Viele Menschen wurden schlichtweg zerdrückt, erstickt oder zu Tode getreten.
Das alles konnte Sal von seinem Fenster aus beobachten. Zuerst hatte er befürchtet, seinen Job zu verlieren, sich aber mit der Zeit größere Sorgen um seine Frau, Freunde und Angehörige als um seine Arbeit gemacht. Jetzt griff er wieder zur Flasche, schnitt dann jedoch eine Grimasse, als er die Hand zurückzog und sich in den Lehnstuhl zurückfallen ließ. Sich in die Besinnungslosigkeit zu saufen, war zu einfach. Er musste wachsam bleiben.
Sal war ein kraftvoller, gebräunter Bolide aus natürlich entwickelten Muskeln. Sein Körperbau rührte nicht vom Fitnessstudio her, sondern war genetisch bedingt und durch seine handwerkliche Tätigkeit bevorteilt. Er war mit italienischen Wurzeln auf dem Spaghetti Hill in Monterey aufgewachsen, dessen Name auf den Umstand zurückging, dass sich dort zahlreiche italienische Einwanderer angesiedelt hatten. Sals Hände waren mit Narben und Brandmalen übersät, doch sein äußeres Erscheinungsbild trügte: Er wirkte zwar wie ein Arbeiter der Unterschicht, ein ranklotzender Steineklopfer oder Rohrbieger, doch in Wirklichkeit war er eine sanftmütige, musische Seele. Sal las viel und schaute sich gerne gemeinsam mit seiner Frau alte Filme an. Auf seine halb künstlerische Tätigkeit in einer lokalen Autoschlosserei bildete er sich etwas ein. Nachdem er Zeit seines Lebens anständiges Geld als Zimmermann verdiente, hatte er vor einigen Jahren in der Werkstatt angefangen, kundenspezifische Lackierarbeiten durchzuführen.
Sal war besonders stolz auf einen Zeitschriftenartikel über sein Schaffen. Er hatte es gemeinsam mit dem Besitzer eines restaurierten Muscle Car auf die Titelseite eines führenden Fachmagazins geschafft. Sein Arbeitgeber, ein anständiger Kerl, hatte durch die Werbung einen Aufschwung erfahren, in dessen Zuge er imstande gewesen war, Sals Gehalt zu erhöhen. Ferner hatte er ihm einen geringen Anteil am Geschäft sowie das Vorrecht zum Kauf gewährt, sollte die Werkstatt je veräußert werden. Sal war zufrieden mit seinem Leben gewesen.
Sein Aussehen mochte sich nun auch als Segen erweisen. Üblicherweise hatten die Menschen einen weiten Bogen um ihn gemacht und offen zugegeben, dass sie sich vor ihm fürchteten. Er konnte nichts dafür, wenn sein Gesichtsausdruck wütend anmutete, obwohl er gutgelaunt war. Außenstehende hielten ihn für dumm und gewalttätig – einen Schläger, der seine Fäuste einsetzte und einschüchterte, um seinen Willen durchzusetzen. So geriet er nicht selten an Typen, die Streit suchten. Ging er auf Partys oder in Kneipen, fing fast immer irgendein Betrunkener an, ihn anzumachen. Er konnte sich nicht prügeln, selbst wenn er es gewollt hätte, und hielt deshalb nur die Arme hoch, um sich zu verteidigen und sein Gesicht zu schützen. Dann kehrte er dem Angreifer den Rücken zu und bat ihn, damit aufzuhören. Das ermutigte den Trunkenbold jedoch oftmals erst dazu, noch fester und häufiger zuzuschlagen. Stets schritten andere ein, um das Drama zu beenden, doch sie bedachten Sal mit mitleidigen Blicken. Er war nie zornig oder ängstlich, sondern schämte sich einfach nur.
Jetzt rutschte er auf dem Sessel herum. Seine Frau war in der Küche und telefonierte mit jemandem. Anscheinend befand sich die gesamte Nachbarschaft auf der Straße, kreischte und tanzte herum. Manche waren nackt, und zu Anfang hatte sich Sal die hübschen Frauen gerne angesehen. Wenn sie unbekleidet waren, tanzten sie fast immer, doch es hatte nur wenige Minuten gedauert, bis ihm viele nahe Bekannte und Verwandte in der Menge aufgefallen waren.
Als es auf einmal laut an der Haustür klopfte, schaute er hinaus. Es war sein Cousin Tony. Er grinste, schwitzte und wirkte ein bisschen wirr – alles Anzeichen, auf die er laut seiner Frau achten musste. Sie hatte ihm ebenfalls befohlen, wirklich niemanden hereinzulassen, Punkt! Da sie aber nicht aus Monterey stammte, besaß sie hier weder Angehörige noch langjährige Freunde.
»Sally!« Tonys Stimme klang irgendwie dumpf, leblos.
»Hey, äh, tut mir leid, aber ich kann dich nicht reinlassen.«
»Sally!« Tony schien ihn nicht gehört zu haben. »Hey, Sally, lass uns spielen.«
Tony und Sal hatten ihre Jugend nur ein paar Häuser voneinander entfernt verlebt. Seit Gedenken kam sein Cousin nahezu täglich zu ihm herüber. Noch heute, obwohl sie beide über 30 waren, änderte sich nichts daran, doch diesmal war Tony nicht gesund. Er sah fröhlich aus, strahlte und klopfte erneut. Sal wandte sich ab, rutschte an der Tür hinunter und fing an zu weinen. Sein Cousin hatte sich angesteckt. Er war sein Freund, Verwandter und ein wichtiger Teil seines Lebens. Sal schluchzte.
»Ach Gott, Schatz, was ist denn los?« Seine Frau kam zu ihm, um ihn zu trösten.
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