»Verstehe. Also …«
»Passen Sie auf, Alex. Ich weiß, das alles kommt recht plötzlich. Sie brauchen sich keineswegs schon heute Abend festzulegen, nicht einmal morgen. Sollten Sie sich aber bereit erklären, wird es umso besser sein, je früher ich davon erfahre, damit ich mich um das nächste Mitglied bemühen kann. Wir befinden uns noch in der Frühphase eines Duells mit diesen Tschekisten des 21. Jahrhunderts, doch jetzt gilt es.«
»Entscheidung im Morgengrauen?«
»Nicht ganz, aber wir müssen zügig handeln. Wie ich schon sagte: Es gibt Arbeit – eine Menge –, und mit einem Friedensangebot dürfen wir wohl eher nicht rechnen. Vor einem Jahr hätte ich die Zahl der Russen in verdeckter Mission auf britischem Boden auf unter Hundert eingeschätzt. Nun habe ich allein letzten Monat Mutmaßungen gelesen, die weit in den vierstelligen Bereich reichen.«
»Erstaunlich. Entspricht das in irgendeiner Weise den Beobachtungen unserer amerikanischen Kollegen?«
»Ja, falls es dort nicht sogar schlimmer aussieht. Ihr Freund Brick Kelly vom CIA ist genauso besorgt wie wir. Der Kreml deckt weitverzweigte kriminelle Unternehmungen, wobei er auf praktisch unbegrenzte Reichtümer und bislang ungenutzte Rohstoffe zurückgreifen kann. Russlands Wirtschaft boomt, obwohl der Ölpreis in die Höhe schießt. Ich wiederhole mich, aber das Land könnte Europa in weniger als einer Stunde in die Knie zwingen, indem es einfach die Öl- und Gashähne zudreht. Das wird nicht geschehen – vorausgesetzt natürlich, es fühlt sich durch niemanden dazu provoziert. Der Kapitalfluss bedeutet ihm nämlich zu viel. Was zum Teufel ist also in den Russischen Bären gefahren? Das herauszufinden, Alex, darin besteht die Aufgabe von Rotes Banner.«
»Das ist mir jetzt klar. Eine Frage noch, falls Sie erlauben, Sir: Warum sollen wir unsere Zelte ausgerechnet in Bermuda aufschlagen?«
C lächelte abermals. »Erstens liegen die Inseln so ziemlich genau auf halbem Weg zwischen London und Washington, aber es kommt vor allem auf Geheimhaltung an. Ich kann diese Sache nicht von Vauxhall Cross 85 aus vorantreiben. Begreifen Sie, Alex, dass die Russen London unterwandert haben – nicht nur die unerhört reichen Oligarchen, die Mayfair-Paläste aufkaufen, sondern auch der wiedererstarkte KGB. Wohin man schaut, wimmelt es vor elenden russischen Spitzeln und Magnaten. Das sind verkommene, unmoralische Menschen, die kein Tabu kennen.«
»Es heißt, die russische Mafia kaufe Kasinos und steche alle Londoner Prostitutionsringe aus: Mädchenhandel, der von Osteuropa und den Golfstaaten ausgeht. Londonistan nennt man die Stadt dieser Tage angeblich.«
»Das stimmt leider, Alex. In den Neunzigern kämpften wir gegen die Herrschaft der Plünderer – eine Regierung unter chaotischen Zuständen, die von konkurrierenden Dieben angeführt wurde. Diese Banditen haben Milliarden angehäuft und Russland gehörig ausgenommen. Innerhalb kürzester Zeit – während weniger Jahre – wirtschafteten sie ein ganzes Land herab, sodass man wohl vom größten Raub in der Geschichte der Menschheit sprechen darf. Jetzt befindet sich die Nation in der Gewalt der Geheimpolizei. Putin war der Erste, der Ex-Schergen des KGB zu Macht in allen erdenklichen Positionen verhalf. Das Neue Russland ist der erste wahre Polizeistaat der Welt, von Grund auf. Nachdem sie sich über alle Maßen an emporschießenden Öleinnahmen bereichert haben, suchen Sie nach weiteren Gebieten, die sich schröpfen lassen.«
»Ich bin mir nach wie vor nicht ganz sicher, Sir, ob das erklärt, weshalb Sie Bermuda für Rotes Banner gewählt haben.«
»Zum zweiten Mal: seiner geografischen Lage wegen. Gibt es anderswo auf Erden britisches Gebiet, das so abgeschieden und unberührt ist wie dieser kleine Archipel hier in türkisblauem Meer? Jeder Russe, der einen Fuß auf diese Inseln setzt, wird auffallen wie ein bunter Hund.«
Hawke wollte den verboten hübschen bunten Hund erwähnen, den er am Nachmittag in seiner Bucht kennengelernt hatte, doch in diesem Moment steckte Lady Diana Mars ihren hübschen Kopf durch die Tür der Bibliothek und sagte: »Gentlemen, das Abendessen steht auf dem Tisch.«
»Nach Ihnen, Kamerad«, sprach C mit neuerlichem Lächeln zu Hawke.
Dieser erwiderte: »Spasiba.« Mit dieser Danksagung hatte er sein russisches Vokabular bereits erschöpft.
Er musste dringend eine Handvoll richtig gesalzener Schimpfwörter in dieser Sprache lernen, um Ambrose Saures zu geben, weil er ihn praktisch am Gängelband in Truloves Falle geführt hatte, die so geschickt für ihn aufgestellt worden war.
New York City
Jingle Bells, Jingle Bells, dem alten Paddy, dem gefällt's. Weihnachten in New York war immer noch unschlagbar. Etwas liege in der Luft, sagten die Leute und hatten recht damit. Jawohl, magisch – so konnte man es nennen. Er lehnte an einer Absperrung in der 53. Straße und schaute dem Treiben auf der Eislaufbahn am Rockefeller Center zu.
Es schneite ein wenig, Flöckchen so glitzernd wie in Filmen, und es wurde schnell dunkel, sodass der riesige Tannenbaum umso heller strahlte und funkelte. Da Paddy seine Augen halb schloss wie damals als Kind, verschwamm der Anblick. Toll, dass das klappte. Es war schön, den Baum selbst in seinem Alter noch so sehen zu dürfen.
Sogar den Menschen auf Schlittschuhen zuzuschauen bereitete ihm Freude. Am besten gefielen ihm die jungen Dinger in ihren Eislauffaltenröckchen. Mit so etwas am Leib durfte man nicht auf die Bahn treten, wenn man kein Engel auf Kufen war. Dann gab es natürlich die Typen. Doch etwas an Männern, die beim Laufen ein Bein hoben und dahinglitten wie der sterbende Schwan, ging ihm gegen den Strich, von jeher. Solchen Kerlen traute er genauso wenig über den Weg wie allen, die in die Badewanne stiegen, statt zu duschen. Wenn man keine Frau war und richtig gut im Schlittschuhlaufen, musste man schwul sein, oder? Wer's hingegen gar nicht konnte, wie dieser Möchtegern-Gangsta, der gerade kopfüber gestürzt war und mit dem Arsch gegen eine Bande rutschte, sollte definitiv keinen Fuß aufs Eis setzen.
»Hey, du Spastiker. Genau, dich meine ich, Lulatsch! Klasse gemacht, Mann, du siehst da draußen aus wie Wayne Gretzkys behinderter Bruder!«
Paddy lachte und schaute auf seine Uhr. Um sechs hatte die Weihnachtsfeier im Büro begonnen, und jetzt war es schon Viertel nach. Nach seinem langen Flug aus Fairbanks im beschissenen Alaska hatte er sich unverzüglich auf seinem Zimmer im Waldorf hingelegt und ein paar Stunden geschlafen. Der Rezeptionist war angehalten worden, ihn um 16:30 Uhr zu wecken.
Er hatte bei P.J. Clarke's vorbeigeschaut und ein paar Mineralwasser getrunken, dabei jedoch die Zeit vergessen. Dennoch war er gespannt auf die Feier. Sie sollte die erste offizielle Veranstaltung im neuen Sitz des Unternehmens oben im Empire State Building sein. Man erzählte sich, Gladys Knight gebe ein Privatkonzert, aber das war wahrscheinlich nur Geschwätz.
Paddy wusste nicht genau, wann der Big Boss bei dieser Sause aufkreuzen würde, aber verpassen wollte er ihn keinesfalls. Nur wenige Angestellte bekamen je die Gelegenheit, ihn persönlich zu sehen – den großen Macher, den Krösus, das hohe Tier, den Mann hinterm Vorhang. Doch, doch, der bevorstehende Abend konnte nur ein ganz besonderer werden.
Strelnikow tat gut daran, sich nun zu beeilen. Er wandte sich von den Schlittschuhläufern ab und ging schnell über die hübsch dekorierte Einkaufsmeile nach Osten in Richtung Fifth Avenue.
Nachdem er die Fifth rechter Hand betreten hatte, machte er sich auf den Weg nach Süden zur 34. Straße. Das Gedränge war beispiellos, vor allem die Schlange vor den Schaufenstern des Luxusladens Saks. Weiter unten auf seiner Route gab es auch irgendwelchen Rummel, dort standen Riesenscheinwerfer, die senkrecht in den Himmel strahlten. Man sah den Schnee in ihren Kegeln rieseln, die sich hin und her bewegten, wobei sie die dunklen Unterseiten der niedrigen Wolken erhellten und über die Fassaden hoch oben an den Wolkenkratzern huschten, die das Straßenbild seiner Kindheitsträume prägten.
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