In den Minuten des Beifallsrausches, der Stella noch immer umgab, ließ Meerbold das relativ wenige Substanzielle, was er über die neue Königin des Rock wusste, Revue passieren.
Die Berichte der Yellow-Press und die Interviews der letzten Jahre im >Rolling Stone< hatte er alle gelesen. Meist war das Geschriebene seicht, deutete zwar einiges aus ihrem Privatleben an, ging oberflächlich auf ihre geniale Musik ein, streifte Affären aber nur am Rande. Er kannte die gängigen Klischees über sie in- und auswendig. Meerbold war regelmäßiger Gast bei Google, um nichts Neues über sie zu verpassen. Nach allem was er zwischen den Zeilen in den Berichten und Interviews über Stella Henderson gelesen, im TV gesehen hatte, entsprach sie genau dem Typus Frau, den er sich für diese besondere Nacht wünschte. Das war das für ihn Entscheidende. Alles andere Nebensache. Stella kann sich gut tarnen. Wie ich, genau wie ich – redete sich Meerbold seit Jahren ein. Denn dass sie sich tarnte, etwas zu verbergen hatte, dessen war er sich sicher. Immer wieder gab es Gerüchte um Stella, ihre Neigungen, ihre Sexualität, ihre Liebschaften. Man weiß, dass an Gerüchten meist ein Körnchen Wahres ist. Da waren zum Beispiel ihre immer schärfer werdenden, einen Mann wie Meerbold aufgeilenden Musik-Clips, die er sich von MTV mitgeschnitten hatte. Die Dreiminuten-Filmchen lebten von Anspielungen; ihre Erotik blieb unterschwellig. Weitaus differenzierter, intelligenter und letztlich aufreizender als die provokanten, sofort durchschaubaren und an der Oberfläche bleibenden Clips von Madonna oder die optisch voluminösen, fantasievollen und direkt auf Hol-dir-einen-runter getrimmten Videos von Lady Gaga und Rihanna. Aber für ihn, den Fachmann in Sachen Erotik, waren die von Stella gedrehten Clips dennoch eindeutig. Eindeutig erotisch, und das auf eine ganz bestimmte, nur schwer zu beschreibende Art. Dafür musste man einen sexten Sinn haben.
Meerbold hatte ihn. Zumindest das sei ihm attestiert.
Wie oft war Rudolf Meerbold nachts noch einmal aufgestanden, hatte zu seiner gewiss nicht prüden Frau gesagt, dass er noch einige Akten durchsehen müsse, damit er für die Debatte im Hohen Haus gut präpariert sei, um sich erst eine fette line zu legen und dann genüsslich einen Videoclip von Stella anzusehen.
„Freak Out“, „Tell Me Your Dream“, „What A Big Ahhh ...” waren seine favourites. Er sah sich in den nach einem festen Ritual ablaufenden Nachtstunden immer nur einen Clip an. Oft in slowmotion, um jede Faser ihres unbeschreiblich erotischen Körpers besser genießen zu können und die schnellen Schnitte, so wie sie heute in der Clip-Culture leider in waren, in seinem Sinne zu verlangsamen. Meerbold war auf die Macher sauer, weil sie von dem Star immer weniger zeigten. Dafür multiple Storys inszenierten und einen immensen technischen Aufwand betrieben, um sich von der Konkurrenz ein wenig abzuheben. Da die Henderson ein weltweiter Superstar war, wurden ihre Clips besonders aufwändig gedreht und wahnsinnig schnell geschnitten. Damit ließen sie Raum für unendlich viele – erotische – Fantasie. Und die hatte Meerbold. Auch das konnte man ihm attestieren.
Meerbold, der stets nackt schlief, streifte sich, wenn er das Ehebett verließ um mit Stella per DVD oder Festplatte fremd zu gehen, seinen dunkelgrünen Seidenkimono über, den er, eitel wie er war, mit dem Schwarzen Gürtel aus seiner aktiven Zeit als Judoka schloss. Das machte ihn noch männlicher, unwiderstehlicher. Meinte er. In seinen Gedanken versetzte er sich oft in die herrliche Zeit zurück, die er durch den Kampfsport genießen konnte. Bereits im zarten Knabenalter räumte er auf Turnieren Preise ab und so ergab es sich von selbst, dass die Mädchen auf ihn standen. Zu gerne prahlte er mit den verschieden farbigen Gürteln, die er sich im Laufe der Jahre erkämpft hatte und nicht selten erschien er in der Schule mit dem Grünen, Blauen, später dann, in seiner Blütezeit als Judoka, mit dem Schwarzen Gürtel. Er spürte schon damals die Macht, die von ihm ausging, wenn er den Gürtel trug, und ärgerte sich in seinem jetzigen Leben, dass der Putin ihm das nachmachte, wenn er besonders auf den Putz hauen wollte. Dabei galt sein – Meerbolds – Imponiergehabe damals ausschließlich den Mädchen. Auf die war er scharf. Bei ihnen kam der Gürtel, auf nackter Haut vorgeführt, am besten an. Das Ritual behielt er bei und deshalb musste seine geliebte Stella den großen Meerbold auch mit dem Schwarzen Gürtel ertragen.
Wenn er Kimono und Gürtel angelegt hatte, setzte er sich genüsslich auf seine schwarze, italienische Designer-Ledercouch, die in der Mitte des großen Arbeitszimmers stand. In einem überdimensionalen Safe, der durch eine schwarz gelackte Bücherwand verdeckt war, lagerten seine Schätze. Darunter alles von Stella Henderson. Denn bei aller Skrupellosigkeit des Herrn Staatssekretärs wäre es ihm unangenehm gewesen, wenn Gattin Arianne, sein gesellschaftliches Aushängeschild aus erstklassigem teutschen Adelsstall, seine perverse Neigung zu dieser Rockschlampe – Ariannes Worte – entdeckt hätte. Arianne ließ nur eine einzige TV-Begegnung mit der Henderson über sich ergehen. Das war vor zwei Jahren, als ein Konzert der Rockdiva auf MTV übertragen wurde und ihr verehrter Gatte darauf bestand, sich das Ereignis gemeinsam mit ihr anzusehen. Danach war Arianne gar nicht amused, denn auf schöne Frauen war sie immer eifersüchtig. Wusste sie doch, mit was für einem Kerl sie verheiratet war. Meerbold hatte es verstanden, seine Abhängigkeit vom Kokain – und er war mit seiner Vorliebe für das weiße Pülverchen wahrlich nicht allein im deutschen Bundestag – vor Arianne zu vertuschen. Das besondere Vergnügen gönnte er sich auch zu Hause nur heimlich und immer dann, wenn er besonders scharf auf Stella war. Und er war täglich auf Stella scharf ... Dass er eine Schampus-Nase war, dass er öfter einen Schluck zu viel Dom Perignon in sich hineingoss, schrieb Frau Gräfin Staatssekretär dem Stress in der Bundesregierung zu, denn Meerbold war auch da in guter Gesellschaft. Außerdem: Sie nippte selbst nur zu gern an den edelsten Tropfen. Es war für sie völlig normal, dass Rudolf der Große öfter einen oder auch zwei Schluck über den Durst trank und dann sehr ordinär wurde, wenn er über sie herfiel.
Genau das mochte sie an ihm.
Meerbolds Mehrzweck-Fernbedienung war ein kleines technisches Meisterstück. Von der Couch aus konnte er die Tür zu seinem – akustisch versiegelten – Arbeitszimmer verschließen, die Bücherwand zur Seite fahren, die Rollos der Fenster schließen, den Safe öffnen, den Fernseher einschalten, den Hard-Disc-Recorder bedienen, das Bose-Soundsystem in Gang setzen.
Nur die angemessene Dosis Koks musste er sich selbst legen und den richtigen Song programmieren. Dann war Genießen angesagt. Geiles Genießen. Das Erleben eines der Clips von Stella Henderson war für ihn gerade in den Wochen vor der Tournee jedes Mal ein herrliches Vorspiel auf den großen Tag der ersten Begegnung mit dem Star. Dass es diese Begegnung geben würde, dessen war er sich stets sicher gewesen. Darauf konzentrierte er sich, seit er wusste, dass ihre World-Tour sie diesmal auch durch Deutschland führen würde. Meist sah er sich den sorgfältig ausgesuchten Clip zehn-, fünfzehnmal an. Nonstop. Vor, zurück. Vor, zurück. Slowmotion. Das dauerte, je nach Grad der Erregung, bis zu einer Stunde.
Slowmotion.
Er war ihr verfallen, mit Haut und Haar. Und besonders sein Schwanz. Im Laufe der Jahre hatte er es gelernt, während der Minuten seiner sich aufbauenden geistigen Ekstase, die ihn regelmäßig an den Rand des Wahnsinns brachte, ihn völlig ausflippen ließ, einen wundervollen Orgasmus zu bekommen, ohne auch nur eine einzige Sekunde Hand an sich legen zu müssen.
Das jahrelange Genießen und Warten auf den heutigen Abend ging ihm in Sekundenbruchteilen durch den Kopf, als er jetzt vor der Bühne stand und auf sie starrte. Das Konzert in der Frankfurter Festhalle war für ihn der Höhepunkt seiner krankhaften Zuneigung zu der Sängerin. Stellas sinnliche, zum Bersten erotische Ausstrahlung war für ihn einfach unvergleichlich stärker als jedes noch so heiß gedrehte Filmchen. Jetzt stand sie dreidimensional, live, lebendig und in ganzer Schönheit und Größe vor ihm, ihre Hits in genialer Qualität aus sich heraus schreiend. Jeder Zentimeter der Frau purer Sex. Zumindest empfand das Meerbold so. Dabei war Stella Henderson auf der Bühne eher unauffällig gekleidet: eine schlabberige Bluejeans 501, die durch einen breiten schwarzen Gürtel über ihrer wundervoll schmalen Taille allerdings sehr körperbetont festgehalten wurde. Die schwarze Bluse aus Waschseide dezent geschlossen. Nur die zwei obersten Knöpfe standen offen und ließen ihren lieblichen, mittelgroßen Busen erahnen, nicht sehen. Das war es schon fast. Denn Schuhe trug Stella bei ihren Konzerten nie, der Tradition Janis Joplins folgend. Stella trug Silberschmuck. Alte Indianerarbeit; zwei acht Zentimeter breite Armreifen mit blutroten Steinen und dazu passende – blutrote – Ohrringe in der Form eines für Meerbold eindeutigen Phallus-Symbols. Die Armreifen hatte sie im Laufe der Show abgestreift und mit vielsagendem Blick ihrem athletischen Keyboarder – mit wachsblondem, langem, wehenden Haar, der an Rick Wakeman aus den Siebzigern des letzten Jahrhunderts erinnerte – zugeworfen. Am makellosen Hals der Rockdiva lag eine breite, silberne Kette. Vier-, fünf Mal umschlang diese ihren zarten, langen, wunderschönen Hals, verschönerte das Dekolleté.
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