Und nicht auszudenken, wenn ich mit dem T-Shirt in der Hand erwischt werden würde. Das wäre unendlich peinlich. Ich verstehe nicht, wie Julie sich das nur traut.
Es klingelt schrill zur Pause.
„Ach, Mensch, jetzt haben wir nicht geschafft, den Lebenszyklus der Feldmaus durchzugehen. Ihr müsst bis zum nächsten Mal dann selbst von Seite 40 bis 53 lesen!“, schreit Hinkeheiner gegen den Lärm der Klasse, die sich in die Pause stürzt.
„Mission erfüllt“, sagt Helena und gibt mir einen High Five. „Da brauchten wir nicht mehr über die Vermehrung dieser Maus reden. Kommt ihr mit zur Rampe?“
Julie zeigt nach unten, reibt die Knie aneinander und formt mit den Lippen das Wort „Pinkeln“.
„Wir warten dort auf dich“, sagt Helena und zieht mit mir von dannen. Ich schaffe es gerade noch, einen Blick auf Julie zu werfen, die mir geheimnisvoll zuzwinkert.
„Warum runzelst du die Stirn?“
Malthe drückt seine Nase ganz dicht an meine und lässt sich nach vorne über meinen Stuhl fallen, sodass ich ihn auf den Schoß nehmen muss.
„Hm, das ist bestimmt, weil ich nachdenke.“
„Worüber denkst du nach?“
„Ich überlege, was man wohl machen muss, um seinen extrem neugierigen kleinen Bruder dazu zu bewegen, seine Nase aus den Angelegenheiten seiner Schwester zu halten.“
„Aha“, sagt Malthe verdutzt.
„Und weißt du, was ich glaube, was hilft?“
„Nee. Was denn?“, fragt der kleine Hosenscheißer mit großen Augen.
„Ich glaube, ich muss ihn einfach ganz lange… kitzeln!“
Malthe fängt an zu kreischen und ich setzte zum Kitzelangriff an. Er liebt dieses Spiel und es funktioniert 1A, wenn es etwas gibt, worüber ich nicht reden möchte. Er vergisst all seine Fragen und das ist gut so, denn mein Kopf ist gerade am überkochen.
Kann ich Julie erzählen, dass ich in Kasper verknallt bin? Würde sie Helenas Seite ergreifen und wäre sauer auf mich? Oder würde sie verstehen, dass ich mich nicht getraut habe, es vorher zu sagen und mir auch helfen, wie sie es bei Helena macht?
„Es gibt Spaghetti Bolognese, wenn ihr Hunger habt. Könnt ihr einfach in der Mikrowelle warm machen.“ Mamas Absätze klacken über den Küchenboden.
„Papa kommt etwas später. Er ist auf dem Weg nach Hause, aber ihr könnt ruhig schon essen, sagt er. Sonst verhungert ihr noch und das geht ja wohl nicht, was?“
Mama hält Malthe an seinen Wangen und drückt ihm einen Schmatzer auf den Mund. Ich bekomme keinen Kuss, sondern eine ihrer üblichen Reden.
„Guckt nichts Gruseliges im Fernsehen. Bleib auf jeden Fall zu Hause bis Papa da ist, ja. Und mach die Hausaufgaben für morgen, am besten gleich. Nützt ja nichts, solche Sachen aufzuschieben, aber das weißt du ja. Wenn ich wiederkomme, seid ihr schon im Bett, also träumt schön und bis morgen.“
Die Tür fällt hinter Mama ins Schloss. Sie geht zum Ladies Circle. Das ist so eine Vereinigung für Frauen deren Männer Mitglied in solchen Männerlogen sind. Logen sind etwas ganz geheimes, deshalb nennen sie es Circle damit wir nicht noch neugieriger werden, aber weniger geheimnisvoll wird es dadurch nicht.
Ich weiß auch nicht, wie Mama da rein gekommen ist, weil Papa hat mit keiner Vereinigung was zu tun. Er findet das alles irgendwie albern. Aber das ist es nicht, es ist etwas sehr Ernstzunehmendes, allem Anschein nach.
Mama ist nämlich Protokollführende im Circle geworden. Das bedeutet, es ist ihre Aufgabe aufzuschreiben, was bei ihren Treffen beredet wurde. Sie muss es dann reinschreiben und per Mail an alle anderen Frauen in der Gruppe schicken. Das dauert ewig und drei Tage - Mama nimmt das sehr genau. Sie schreibt diese Protokolle, als ginge es um ihr Leben. Sie prustet, ächzt und schlägt alles im gelben Duden nach. Sie hat sogar einen Kommakurs an der Volkshochschule gemacht, weil es offensichtlich ganz perfekt sein muss.
Am Anfang bedeutete das auch, dass sie all meine Aufsätze mit Rotstift durchging.
Mama ist als Lehrerin irgendwie nicht gerade der geduldigste Typ. Es ist mehr so, als würde man ausgeschimpft werden, wenn sie versucht, einem etwas zu erklären oder mit den Hausaufgaben hilft. Jetzt ist es ihr zum Glück wieder relativ egal und ich kann einfach damit weitermachen, Aufsätze ohne Kommata zu schreiben.
Sie treffen sich einmal im Monat im Circle. Papa macht sich jedes Mal darüber lustig. „Na, willst du wieder los zu deinem Feministen-Club? Wer ist heute dran mit Kuchen mitbringen?“
Mama macht das fuchsteufelswild, aber dann lacht Papa ganz herzlich und klopft ihr auf den Po, sodass er wackelt. „Ach, Schatz, entschuldige. Wenn es für dich wichtig ist da hin zu gehen und ein bisschen im Rundkreis zu sitzen, dann mach mal, dass du los kommst.“
Es ist schwer für Mama, längere Zeit wütend auf Papa zu sein. Sie streicht ihm immer ganz zärtlich durchs Haar, bevor sie aufgetakelt mit Lippenstift und hochhackigen Schuhen aus der Tür stürmt.
„Komm schnell !!! Komm schnell !!! Komm schnell !!!“, steht auf meinem Handy. Das ist die vierte SMS von Julie.
Wir haben abgesprochen, Helena soll ihr Vor-Geburtstagsgeschenk schon heute bekommen. Das T-Shirt. Hauptsache, Julie gibt es ihr nicht schon, bevor ich da bin. Manchmal kann sie einfach nicht damit warten, Geheimnisse oder Überraschungen zu verraten. Auf einer Art und Weise ist das ja auch ganz Zucker, aber ich hoffe, sie hat sich im Griff; selbst wenn es schwer ist, Helenas Druck nicht nachzugeben. Irgendwie muss ich ja auch ein Stück von dem T-Shirt für meine eigene Puppe hamstern.
„Ich muss auf Malthe aufpassen, bis mein Vater nach Hause kommt. Meine Mutter ist beim Ladies Circle“, schreibe ich zurück.
Manchmal stelle ich mir vor, der Circle ist eine coole Underground Organisation, die nachts in den Straßen aufräumt, Diebe fängt, Banden aufspürt und den kriminellen Abschaum der Stadt beseitigt. Aber dann fällt mir wieder ein, dass ja meine Mutter ein Teil des Ganzen ist; die, die beim Sozialamt der Gemeinde arbeitet und sich Leberwurstbrote einpackt, weil sie findet, es wäre das Geld nicht wert, in der Kantine zu essen.
Ich habe übrigens die anderen Frauen vom Circle auch schon manchmal gesehen. Sie veranstalten einmal im Jahr einen großen Flohmarkt. Auf dem Marktplatz vorm Rathaus natürlich. Der Erlös wird in der Vorweihnachtszeit an die Armen in der Gemeinde verteilt. Am Tag des Flohmarkts stehen dann alle Circle-Frauen da und reden viel zu laut miteinander, kichern komisch und spielen „Was das wohl wert ist?“, obwohl sie nicht die leiseste Ahnung von alten Sachen haben.
Ich hab’ einmal mitgeholfen und das mache ich nie wieder. Helena und Julie und ein Haufen anderer aus der Klasse kamen zum „Hallo sagen“ vorbei. Während wir also dastanden und uns unterhielten, musste meine Mutter Klamotten aus einem schwarzen Sack geangelt haben, den irgendwer mitgebracht hatte. Dann kam sie nämlich über den Marktplatz gestöckelt, mit wehendem Haar und Lippenstift an den Zähnen.
„Schatz, Guck mal, was Joan mitgebracht hat! Das sind die Sachen ihrer Tochter. Sie ist jetzt in London und hat uns das alles für den Flohmarkt gegeben. Guck mal, wie schön die Sachen sind. Genau dein Stil, was? Du bekommst das garantiert sehr günstig, wenn du gleich zuschlägst.“
Dann zwinkerte sie mir zu, wie ein Marktschreier und piekte mir mit ihren Ellenbogen in die Seite. Extrem peinlich und äusserst merkwürdig; so ist sie sonst überhaupt nicht. Ich werde da nie wieder hin gehen.
„ Beeil dich! “, schreibt Julie.
Malthe liebt Bolognese und hat diese so ziemlich im ganzen Gesicht verteilt, obwohl er gerade mal ein Viertel seiner Portion weg hat. Ich lache ihn an. Er lacht zurück und verziert die Tischdecke mit dem Inhalt seiner offenen Futterluke.
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