18,28–29: Das Handeln der Baals-Propheten Das selbstverletzende Ritzen (V. 28) als kultische Praxis wird in einem akkadischen Text aus Ugarit als typisches Verhalten ekstatischer Propheten genannt: „Meine Brüder sind von ihrem eigenen Blut durchtränkt wie Ekstatiker“. 121Auch in Kontexten der rituellen Klage ist es inner- und außerhalb der Bibel anzutreffen. Dazu zählt auch die Klage über Baals Verschwinden in die Unterwelt im Baal-Epos, worauf es hier wohl rekurriert. 122Die Baals-Verehrer sind kein Kultpersonal, das ein Ritual inszenieren würde, sondern sie betrauern Baals Verschwinden und hoffen vermutlich, seine Rückkehr zu bewirken. 123In ähnlicher Weise ist in V. 29 das ekstatische Verhalten, die „Raserei“ (Hitpael von נבא), auch wenn sie an anderen Stellen in der Bibel bei Propheten belegt ist (Num 11,25–27; 1 Sam 10,5–13; 18,10; Jer 29,26), nicht auf diese beschränkt (1 Sam 19,20–24), und sie kann sogar zur Bezeichnung von irrationalem Verhalten verwendet werden (1 Sam 18,10). 124
18,29: Zeit und Art des Abendopfers Das Abendopfer (עלות המנחה) fand „zwischen den Abenden“ statt (Ex 29,39; Num 28,4), also zwischen Dämmerung und völliger Dunkelheit. 125Die späte Stunde ließe keine Zeit für die in den folgenden Versen geschilderten Ereignisse, doch die Verse 40–46 gehörten nicht zur älteren Geschichte um den Wettstreit. Elija ist an der Reihe, als die Sonne zu sinken beginnt. In der Königszeit war es üblich, dass morgens ein Tier als Brandopfer (עלה) und am Abend ein Speiseopfer (מנחה) gebracht wurde (vgl. 2 Kön 16,15), während zwei tägliche Brandopfer am Morgen und am Abend eine späte und priesterliche Tradition sind (Ex 29,38–42; Num 28,2–8). 126Der Wechsel hat sich in der Exils- oder frühen Nachexilszeit vollzogen. 127Allerdings kann der Begriff מנחה auch ganz allgemein „Opfer“ bedeuten, ohne dass er dezidiert auf ein Speiseopfer abheben würde. 128In 2 Kön 3,20 wird מנחה zur Bezeichnung des Morgenopfers verwendet. Es wäre also möglich, dass מנחה auch das Brandopfer umfasst. Dann wäre es besonders angemessen, dass Elija zu dieser Zeit einen Stier als Opfer bringt. Doch es ist ebenso möglich, dass die Verweise auf die Opfer sowohl in 1 Kön 18,29 als auch in 2 Kön 3,20 nur Zeitangaben sind und die Opfermaterie dabei nicht bezeichnet ist. 129Kurz gesagt liefert die Erwähnung des Abendopfers in V. 29 keinen schlüssigen Hinweis darauf, wann die Abfassung von 1 Könige 18 anzusetzen ist.
18,30: Der Altar Jhwhs Mit Vers 30 wird die dritte und letzte Szene der Geschichte um den Wettstreit eingeleitet. Elija ruft das Volk zu sich heran. Die Baals-Verehrer sind gescheitert; nun ist Elija an der Reihe. In der Version von PE werden die Propheten Baals, die zuvor am Wettstreit teilgenommen haben, nun zu Zuschauern. Vers 30b, in dem Elija einen älteren Altar für Jhwh wiederaufbaut, steht im Widerspruch zu Vv. 31–32a, wo er einen neuen errichtet. Gelegentlich ist davon die Rede, dass die Version mit dem „Wiederaufbau“ eine mit dem deuteronomischen Prinzip der Kultzentralisation in Einklang stehende Korrektur sei. Dadurch ergäbe sich eine Geschichte, in der Elija keinen neuen Altar baute, sondern einen älteren zur vorübergehenden Benutzung wiederaufgebaut habe. 130In anderer Sicht erscheint die „Wiederaufbau“-Version als das Original, was nahelegen würde, dass Vv. 31–32a eine Korrektur der Vorstellung wäre, dass ein Altar jenseits Jerusalems existiert habe, insofern Elija einen neuen Altar baut, der fast sogleich wieder zerstört wird (V. 38). 131Die textkritischen Hinweise zeigen, dass die Verse 31–32a eine Interpolation darstellen (siehe Anmerkung), wodurch die letztgenannte Position bestätigt wird. Dem älteren Text und der älteren Geschichte zufolge hat Elija eher einen Altar Jhwhs wiederaufgebaut, als dass er einen neuen erbaut hätte. 132Dass dort ein Altar stand, stützt nicht die These vom Wiederaufbau eines älteren hieros logos , da in der Geschichte nicht der Standort des Altars hervorgehoben wird. Vielmehr wird dadurch veranschaulicht, wie beklagenswert die Lage der Jhwh-Verehrung war. Weil der ältere Altar zuvor nirgends erwähnt wurde und davon ausgegangen werden kann, dass es einen dauerhaften Altar für Baal gab (V. 26), ist es unwahrscheinlich, dass der Altar während der Rituale der Baals-Propheten zerstört wurde; 133dies war bereits vorher geschehen. 134Dass hier ein Altar für Jhwh jenseits von Jerusalem als legitim angesehen wird, bietet einen deutlichen Hinweis auf einen Ursprung der älteren Geschichte vor DtrH. Zudem setzt PE keine weiteren Details hinzu. Wenn die Rekonstruktion von V. 38 zutreffend ist, wird der wiederaufgebaute Altar nicht durch das Feuer vom Himmel zerstört. Selbst in der überarbeiteten Version ist die Geschichte also nicht an der Kultzentralisation oder an priesterlichen Bestimmungen darüber interessiert, was kultisch angemessen sein könnte. Darin zeigt sich eine prophetische Ausrichtung. Das Interesse und der Fokus der Geschichte liegen auf dem Gottesmann und seiner Demonstration der Überlegenheit Jhwhs über andere Gottheiten, wenn nicht sogar der Ausschließlichkeit Jhwhs.
Die Hinzufügungen in 18,31–32a.35b Die zwölf Steine in der Interpolation von Vv. 31–32a – welche die zwölf Stämme repräsentieren – erinnern an die von Mose (Ex 24,4) und Josua (Jos 4,20) erbauten Altäre und stehen für die Einheit Israels als Jhwhs Volk, doch sie passen kaum zu einer Geschichte, die im Norden des (geteilten) Reiches angesiedelt ist. Mit dem Hinweis darauf, dass Jhwh den Namen Jakob in Israel änderte (V. 31b), wird Gen 35,10 (P) aufgegriffen. 135Diese diversen Parallelen lassen ein priesterliches Interesse an der Heiligkeit eines wiederaufgebauten Altars erkennen (vgl. 1 Makk 4,44–47), der durch das Feuer vom Himmel seine Bestätigung erfährt (Lev 9,24; 1 Chr 21,26; 2 Chr 7,3). Auch der Graben in V. 32b deutet auf priesterliche Anliegen hin. Er hat ein Fassungsvermögen von zwei Sea Saat (V. 32b). Wenn es sich dabei um die Aufnahmefähigkeit des Grabens an sich handeln sollte, dann konnte er nur zwischen 10 und 30 Liter Wasser fassen. 136Wahrscheinlicher ist deshalb, dass diese Angabe sich auf das Gebiet bezieht, das mit zwei Sea Saat als heiliger Bezirk um den Altar herum bepflanzt werden konnte. 137Dem Talmud zufolge (Eruvin 23b) war dies die Größe des Bezirks um die Stiftshütte, nämlich 100 x 50 Ellen. Auch in der Sorge um die Begrenzung des heiligen Bezirks spiegelt sich ein priesterliches Interesse, was darauf hindeutet, dass in V. 32b eine Hinzufügung vorliegt. Wegen des Beginns mit וגם wird auch an der Ursprünglichkeit von Vers 35b gezweifelt; der Versteil scheint eine noch spätere Deutung des Grabens zu bieten, der zufolge dieser vor allem das Abfließen des Wassers verhindert. 138
Sinn und Zweck des Wassers Diskutiert wird daneben auch der Zweck des Wassers. Es werden mindestens fünf verschiedene Vorschläge präsentiert: (1) Es gewährleistet, dass Elija nicht betrügt; 139(2) das Wunder erscheint noch spektakulärer; 140(3) es dient zur rituellen Reinigung des Opfers (Lev 1,9.13); 141(4) es geht um eine Libation; 142und (5) es handelt sich um rituelle Magie zum Heraufbeschwören des Regens. 143Die dritte Möglichkeit kann ausgeschlossen werden: Elijas Anordnung, Wasser zu „gießen“ (יצק), deckt sich nicht mit der Anweisung in Levitikus, zu „waschen“ (רחץ). Daneben wird in Levitikus nicht das gesamte Opfer gewaschen, und das geschieht auch nicht auf dem Altar, sondern nur die Eingeweide und die Beine, die nicht auf den Altar gelegt werden. Darüber hinaus wäre es nicht nötig, es dreimal zu tun. Insgesamt entspricht die Anzahl der mit Wasser gefüllten Krüge (4 x 3 = 12) der Anzahl der zum Bau des Altars verwendeten Steine, was für die Deutung als Libation sprechen könnte, 144doch hierdurch lässt sich nicht erklären, warum sich der Text mit dem Wasser befasst oder warum es auf das Opfer gegossen wird. Interessant ist die fünfte Option, weil der Fokus in den Prophetengeschichten auf Handlungen ritueller Magie liegt, was dafür spricht, dass die ältere Wettstreit-Geschichte der Gattung der Prophetenlegende zuzuordnen ist. PE hat vielleicht den tieferen Sinn des Wasserrituals nicht verstanden; immerhin aber hat PE die Verse 41–46* hinzugefügt, in denen Elija noch einmal eigens den Regen heraufbeschwört. In PE wird Elijas Übergießen des Opfers im Rahmen der ersten beiden Möglichkeiten gedeutet, die sich miteinander verknüpfen lassen: Durch das Wasser wird vor Augen geführt, dass Elija „kein Ass aus dem Ärmel zieht“, dass das Opfer nicht zufällig entzündet wird und dass das Feuer, das herabkommt und sogar das Wasser aufleckt, nicht menschlichen Ursprungs ist. In Elijas fast verschwenderischem Umgang mit dem reichlich vorhandenen Wasser zeigt sich, dass die ältere Geschichte keine Dürre vorausgesetzt hat; das Herbeirufen von Regen würde auch Blitz und Donner mit sich bringen.
Читать дальше