Zwar gestand er sich selber, daß er lieber alleine verreist wäre. Aber er sprach es nicht aus, denn er litt unter dem uneingestandenen Gefühl an seiner Frau und seiner Tochter etwas gutmachen zu müssen. Ihre Begeisterung bei der Aussicht auf diese große Reise steckte ihn nicht an, freute ihn aber doch. Der Ortswechsel, so hoffte er, würde auch für ihn eine Zäsur bedeuten, obwohl sein Leben danach so trivial weitergehen würde wie jetzt.
Der Anruf kam in der Nacht.
Dr. Karl Malthaus, der es gewohnt war, aus dem Schlaf gerissen zu werden, war sofort hellwach. Nur dauerte es eine Zeit, bis er begriff, wer da auf ihn einsprach. Es war Anja Millers Schwester.
»Ein Anfall«, sagte sie, »ein schwerer Anfall! Das Herz … ich fürchte das Schlimmste!«
»Dann sollten Sie den Notarzt anrufen!«
»Das will sie nicht, sie will…«
»Dann werde ich kommen. Sagen Sie ihr, ich fahre sofort los!«
Noch vor dem Notarzt klingelte er an der Wohnungstür. Die Schwester öffnete ihm. Sie hatte einen Morgenmantel über ein altmodisches bodenlanges Flanellhemd geworfen und sah, totenblaß, mit vor Schreck geweiteten Augen, selber so aus, als hätte sie ärztliche Behandlung nötig.
In der kleinen Diele stolperte er über einen Koffer.
»Auch das noch!« Die Schwester rang die Hände. »Entschuldigen Sie, Herr Doktor! Es ist so, ich wollte morgen…«
»Ich dachte, Sie wären längst über alle Berge«, sagte er, während er an ihr vorbei in das Schlafzimmer hastete.
»Nein, ich … es hat sich verzögert! O Gott, Herr Doktor … wenn sie nun stirbt!«
Anja lag verkrümmt in ihrem Bett und stöhnte. Sie schien große Schmerzen zu haben. Ihre Haut wirkte bläulich, das Gesicht verzerrt. Ohne zu fragen, öffnete er seine Bereitschaftstasche und zog eine Spritze auf.
Dabei redete er sanft auf sie ein. »Wird schon wieder gut. Ist gleich vorbei. Sie werden sehen. Stöhnen Sie nur, wenn es Ihnen Erleichterung verschafft.«
Er injizierte intravenös.
Anja schlug die Augen auf. »Sie sind es! Das ist gut … so gut!«
»Packen Sie ihr rasch ein paar Sachen zusammen, nur das Wichtigste«, sagte er zu der Schwester, die ihm nachgekommen war.
Trotz ihres Zustandes begriff Anja. »Aber ich will nicht…«
»Sie haben jetzt gar nichts mehr zu wollen. Hier bestimme ich. Seien Sie froh, daß Sie ins Krankenhaus kommen. Dort sind Sie unter ständiger ärztlicher Betreuung und können endlich einmal gründlich untersucht werden.«
»Bitte, bitte! Solche Angst!«
»Ich werde Sie begleiten. Ihre Schwester ist dazu ohnehin nicht in der Lage!« Er gab der Frau zwei Tabletten. »Nehmen Sie die und schlafen Sie sich erst mal aus.«
»Aber kann ich dann morgen abreisen?«
»Diese Frage müssen Sie sich selber beantworten.«
»Nein, ich bleibe lieber, bis ich weiß, was mit Anja ist.«
Auf der Fahrt im Rettungswagen zur Klinik umklammerte Anja seine Hand. Aber die Spritze tat ihre Wirkung, und endlich schlief sie ein. Sie merkte nicht mehr, daß sie in ein Krankenzimmer getragen wurde.
Dr. Malthaus gab ihre Daten an, ihre Versicherung und berichtete dem diensthabenden Arzt ihre Krankengeschichte. Er bat, vom Ergebnis der Untersuchung benachrichtigt zu werden.
Als er die Klinik verließ, war er erleichtert, die Verantwortung los zu sein.
Acht Tage später hielt er das Untersuchungsergebnis in Händen. Es war mit der Post gekommen, und er las es sofort, obwohl sein Wartezimmer voll war. Man hatte ihr Herz in Ruhelage und bei ständig gesteigerter Anstrengung getestet, aber das EKG zeigte keinen Befund.
»Die Patientin ist körperlich völlig gesund«, hatte der Herzspezialist darunter gekritzelt, »die krampfartigen Anfälle, subjektiv mit starken Schmerzen und einem bedrohlichen Angstgefühl verbunden, rühren von einer Neurose her, deren Ursache der Patientin nicht bekannt ist und wahrscheinlich von Ereignissen in der frühesten Kindheit verursacht werden. Da die Patientin eine psychiatrische Behandlung ablehnte, ist sie heute entlassen worden.«
Er sah auf das Datum des Briefes – seit gestern war sie also schon wieder zu Hause. Das Ergebnis der Untersuchung überraschte ihn nicht. Es entsprach seiner eigenen Diagnose. Damit war der Fall abgeschlossen.
Aber nachdem er seine Hausbesuche am Nachmittag hinter sich gebracht hatte, fand er sich vor ihrer Wohnungstür.
Anja Millers Schwester öffnete ihm wie früher und führte ihn in das helle Zimmer mit dem japanischen Garten.
Anjas Gesicht leuchtete auf, als sie ihn sah, und sie streckte ihm ihre Hand entgegen. »Ich bin so froh, daß Sie gekommen sind!«
»Ich mußte doch noch einmal nach Ihnen sehen.«
»Bitte, nehmen Sie sich einen Whisky!«
»Deshalb bin ich nicht hier.«
»Bitte! Sonst muß ich selber aufstehen, und ich fühle mich noch ein bißchen schwach. Sie kennen sich doch aus, Herr Doktor!«
Er goß sich Whisky und Wasser ein, tat einen Eiswürfel dazu und setzte sich auf den gewohnten Platz. Wieder begann die Stille des Raumes und der Anblick des japanischen Gartens ihn gefangenzunehmen.
»Sie glauben doch nicht, was die anderen Ärzte behaupten?« fragte sie in sein Schweigen hinein.
Er zuckte ein wenig zusammen und stellte das Glas aus der Hand.
»Ich bin keine eingebildete Kranke!« erklärte sie mit Nachdruck, aber ihre Stimme blieb sanft.
»Natürlich nicht.«
»Die wollten mich zu einem Psychiater schicken.«
»Ich verstehe sehr gut, daß Sie das ablehnen. Aber solange Ihre Schwester noch hier ist…« Er unterbrach sich. »Wie lange kann sie bleiben?«
»So lange es nötig ist!« Sie schien selber zu merken, daß sie mit zu großer Bestimmtheit über ein anderes Schicksal verfügt hatte, und setzte abschwächend hinzu: »Natürlich nicht für immer. Aber ein paar Wochen noch, denke ich doch.«
»Sie sollten die Gelegenheit wahrnehmen, sie auszufragen. Sie wird doch über Ihre Kindheit Bescheid wissen. Über Ereignisse, an die Sie selber sich nicht mehr erinnern.«
»Wozu?«
»Herzanfälle, wie Sie sie durchgemacht haben, sind fast immer auf etwas zurückzuführen, was man in frühester Kindheit erlebt hat«, sagte er behutsam.
»Es sind ganz echte körperliche Schmerzen!«
»Ja, ich weiß, aber ihre Ursache…«
»Was würde es nützen, in Kindheitserlebnissen herumzuwühlen? Davon werde ich nicht gesund. Im übrigen weiß ich, daß meine Mutter gestorben ist, als ich gerade erst ein Jahr alt war.«
»Aber Sie können sich nicht erinnern?«
»Nein. Und ich will es auch gar nicht.«
»Es könnte Ihnen helfen.«
»Nein. Nur Sie können mir helfen. Wenn Sie mich nicht im Stich lassen. Schicken Sie mich nie wieder in die Klinik zu diesen schrecklichen Ärzten, die einen behandeln wie…«
»Bitte, regen Sie sich nicht auf, Anja! Natürlich müssen Sie nicht noch einmal ins Krankenhaus.«
»Dann wird alles gut«, sagte sie mit einem tiefen Seufzer.
Er nahm sein Glas und trank einen Schluck. Aber es gelang ihm nicht wie sonst sich zu entspannen. Er dachte, daß sie sehr unvernünftig wäre. Natürlich konnte man sie mit Sedativen in gewissem Maß vor weiteren Herzanfällen bewahren. Aber alle Beruhigungsmittel brachten die Gefahr einer Gewöhnung mit sich. Es wäre sehr viel besser gewesen, auf den Grund ihrer Kindheit zurückzukehren. Aber er war kein Psychologe und schon gar kein Psychiater. Er hätte ihr dabei nicht helfen können, selbst wenn sie es gewollt hätte. Doch gegen ihren ausgesprochenen Widerstand war schon gar nichts zu machen.
Er blickte sie an, wie sie da saß, die Hände ganz locker im Schoß, die tiefdunklen Augen auf den japanischen Garten gerichtet, in dem die Bäume im warmen Schein der Nachmittagssonne geheimnisvolle Schatten warfen. Tiefes Mitleid erfaßte ihn. Sie war ja noch das kleine Mädchen, das von einem Tag zum anderen mutterlos geworden war. Wahrscheinlich saß der Schock so tief, daß sie sich verzweifelt wehrte, auch nur daran zu rühren.
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