Das erklärte ihm auch den Sog, der von ihr ausging, das und natürlich ihre Einsamkeit. Er war immerhin noch realistisch genug, sich das zuzugeben. Anja schien keine Bekannten, keine Freunde oder Freundinnen zu haben.
Als er sie einmal darauf ansprach, erwiderte sie: »Ich habe nur für meinen Mann gelebt.« Ein andermal erklärte sie: »Es macht mir nichts aus, allein zu sein.«
Aber es war offensichtlich, daß sie die stille halbe Stunde mit ihm genoß.
Er war nicht in sie verliebt, aber er hätte sich vorstellen können, mit ihr zu leben, nach all dem Lärm des Tages, dem Stöhnen der Kranken, dem Weinen und Schreien seiner kleinen Patienten, zu ihr in diese stille Wohnung heimzukehren und dort zu bleiben. Niemals mehr würde er Renates vergnügten Freundinnen begegnen, die manchmal scharenweise und dazu noch mit ihren Kindern einfielen, sich nie mehr auf lärmenden Partys mit biertrinkenden Männern unterhalten müssen. Bei ihr hätte er die Ruhe gehabt, sich beruflich fortzubilden, mit ihr wäre er gar nicht erst in die Niederungen einer allgemeinen Praxis geraten, glaubte er.
Mit diesen Wünschen, die er doch unterdrücken mußte, verriet er seine Frau und seine Kinder. Dessen war er sich bewußt. Aber diese Einsicht verschärfte nur noch die Bitterkeit, die er empfand.
Indessen gesundete Anja sichtlich. Ihre Symptome, die doch wohl psychosomatischer Art gewesen waren, wurden schwächer, bis sie endlich ganz verschwunden waren. Aber anscheinend fehlte es ihr noch an Kraft, ein normales Leben aufzunehmen. Wenn er ihr riet, einmal an die frische Luft zu gehen, einen Spaziergang zu machen oder einen Einkaufsbummel, hörte sie ihm lächelnd zu. Doch er war sicher, daß sie seinem Rat nicht folgen würde.
Eines Tages eröffnete sie ihm: »Meine Schwester will mich verlassen.«
Er erschrak so sehr, daß er nichts darauf zu sagen wußte. Wie ein Blitz hatte ihn die Erkenntnis getroffen, daß dann auch seine Besuche nicht mehr zu rechtfertigen waren.
»Ihr Mann belästigt sie mit Briefen und Telefonaten. Sie fürchtet, daß sie ihn nicht länger allein lassen kann«, fuhr Anja nach einer Pause fort.
Er rang sich ein ›Verständlich!‹ ab.
»Wir haben uns nie sehr nahegestanden.«
»Um so anerkennenswerter, daß sie sich so lange um Sie gekümmert hat«, sagte er, dem endlich die Kehle wieder frei geworden war.
»Ja, das ist es wohl.«
Wieder entstand, wie so oft in ihren Gesprächen, eine lange Pause, aber diesmal war sie nicht friedvoll, sondern voll unterdrückter Spannung.
»Dann werden wir uns wohl auch nicht mehr wiedersehen«, sagte Anja, »es wäre nicht schicklich.«
Der Ausdruck erschien ihm sehr altmodisch, weit hergeholt, aber in der Sache mußte er ihr recht geben. Nicht nur ihres, sondern auch seines Rufes wegen war es nicht angebracht, eine allein lebende junge Witwe außer in einem akuten Notfall aufzusuchen.
»Sie sind ja auch jetzt wieder ganz gesund«, sagte er.
»So gesund, wie ich sein kann«, bestätigte sie mit einem zittrigen Lächeln.
»Ich werde Ihren japanischen Garten sehr vermissen.«
Ihre Augen leuchteten auf. »Ich könnte Ihnen Bonsais geben…«
»Lieber nicht«, fiel er ihr ins Wort, »sie passen wohl kaum zu mir.«
»Wo Sie solche Freude an ihnen hatten?«
»Hier bei Ihnen«, sagte er und stand auf.
Auch sie erhob sich. »Ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken soll, Herr Doktor! Ich hätte nie geträumt, an einem Ort wie diesem einen so fantastischen Arzt zu finden!«
»Sie übertreiben!«
»Nein, gar nicht. Sie müssen mir glauben, ich kenne mich mit Ärzten aus, schon durch die Krankheit meines Mannes. Ich frage mich schon lange, was Sie hierher verschlagen hat!«
Sie war so lebhaft wie nie zuvor, und er nahm es als Zeichen ihrer Gesundung, wenn es ihn auch schmerzte. »Das Schicksal«, erwiderte er lächelnd.
Sie reichte ihm die Hand, eine zarte, kleine, kühle Hand, und aus einem Impuls heraus beugte er sich darüber und küßte ihre Fingerspitzen.
Er hatte sie verloren.
Natürlich hatte er gewußt, daß es nicht immer so hätte weitergehen können. Der Blitz hatte ihn nicht aus heiterem Himmel getroffen, sondern aus einer aufdräuenden Gewitterwand. Er war vorbereitet gewesen, hatte geglaubt, vorbereitet zu sein und nicht geahnt, daß es ihn so schmerzen könnte. Die Trennung von Anja hatte ein Loch in seinem Leben aufgerissen, eine Leere hinterlassen, von der er nicht wußte, wie und womit er sie ausfüllen konnte.
Aber er mußte es durchstehen. Es war lächerlich, er mußte darüber wegkommen.
An diesem Abend zu Hause fiel ihm zum erstenmal auf, daß Karla keine Kraftausdrücke mehr verwendete.
Als ihr versehentlich die Gabel zu Boden fiel, sagte sie nicht ›Scheiße‹, wie er erwartet hatte, sondern ›schade‹.
Er wurde aufmerksam. »Du fluchst gar nicht mehr?« fragte er erstaunt.
Sie strahlte ihn an. »Hast du’s endlich geschnallt? Ich hab’s mir abgewöhnt.«
»Tatsächlich? Eine beachtenswerte Leistung.«
»Nicht, weil ich einsehe, daß was dabei ist, Vati, sondern nur dir zuliebe.«
Er war gerührt, merkte, daß seine Tochter und seine Frau sich mit einem Blick verständigten, spürte, daß er von Liebe umgeben war – nur konnte diese Liebe ihn nicht mehr erreichen. Er sehnte sich nach der Stille eines hellen Raumes und nach einem winzigen märchenhaften Garten.
In dieser Nacht schlief er das erstemal nach langer Zeit wieder mit seiner Frau. Er tat es nicht aus Zärtlichkeit, nicht einmal aus Leidenschaft, sondern aus Verzweiflung. Danach aber fühlte er sich besser, fast befreit.
Sie lag, den Kopf an seine Brust geschmiegt. »Wann willst du dieses Jahr Urlaub machen?«
»Darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht.«
»Ich habe mit meinen Eltern telefoniert. Sie würden in der Zeit zu uns kommen, Jockel und Hinkel betreuen.«
»Haben sie sich auch klargemacht, was ihnen da bevorsteht?«
»Ach, die schaffen das schon mit vereinten Kräften. Karla nehmen wir mit, ja? Sie hat es doch wirklich verdient.«
»Ah, deshalb die unterdrückten Flüche!«
Sie hob den Kopf und sah ihm ins Gesicht. »Hältst du sie für berechnend? Nein, das wirklich nicht. Alles andere als das.«
»Es liegt auf der Hand, da einen Zusammenhang zu sehen.«
»Völlig falsch. Dieses Mißtrauen steht dir nicht.«
»Aber ich gehe doch sicher recht in der Annahme, daß ihr schon fixe Reisepläne gemacht habt?«
»Auch das stimmt nicht. Wir haben noch nicht einmal darüber miteinander gesprochen. Das Ziel überlasse ich dir. Richtung Süden habe ich mir gedacht. Doch wenn du nach Skandinavien willst, soll es mir auch recht sein. Ich möchte nur mal heraus aus dem Trott. Die letzten Jahre war es ja unmöglich.«
»Eine Reise«, dachte er laut, »weit weg von allem hier, das müßte wunderbar sein!«
»Bist du unglücklich?«
»Wie kommst du darauf?«
»Es hat so geklungen.«
»Nein, nein, nur … das tägliche Einerlei hängt mir genauso zum Hals heraus wie dir. Also … wo wollen wir hin?«
»Laß uns morgen in Ruhe darüber reden, ja?« Sie gab ihm einen Kuß und schlüpfte aus seinem Bett.
Am nächsten Tag kamen sie überein, nach Sylt zu fahren. Da Karlas Schulferien im Juli lagen, meinte er, daß es in dieser Zeit im Süden zu heiß sein würde. Auf Sylt gab es komfortable Hotels, und auch wenn es regnen sollte, würde die Seeluft ihnen allen guttun. Karla war Feuer und Flamme, und die Zwillinge waren es zufrieden, unter die Obhut der Großeltern zu kommen. Karl Malthaus suchte ein Reisebüro auf, ließ sich Zimmer reservieren und bestellte die Flugkarten nach Hamburg. Er hängte sich auch ans Telefon, um einen Vertreter für die Zeit seiner Abwesenheit zu bekommen. Damit es sich auch lohnte, wollten sie volle vier Wochen fortbleiben. Am 28. Juni sollte es losgehen.
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