Die Herzogin Mathilde, die seit 1797 Katharinas zweite Mutter war, lebte sehr zurückgezogen. Wenn Katharina sich bei ihr melden ließ, tat sie das aus gutmütiger Höflichkeit und kaum aus Freundschaft. Mathilde nutzte dann gern die Gelegenheit, aus ihrem sonst so förmlich-distanzierten Benehmen etwas herauszutreten. Sie erzählte der begierig zuhörenden Prinzessin von geheimen Hofberichten, die sie sich aus englischen Quellen verschaffte, sprach von makabren Schauermären, die über den russischen Hof umgingen, und von dem wilden, grausamen, genialischen Wesen der »bösen Zarin«. Katharina hörte erstaunt, dann erschrocken zu. Aber obwohl sie Mathildes Eifer und Abscheu befremdete, ließ sie sich doch von den weitschweifigen Schilderungen gefangennehmen.
Vor fünf Jahren war die große Katharina gestorben, sie hatte, so hörte man, ihren Sohn Paul, den Gatten der württembergischen Sophie, die Katharinas Tante war, ehrlich gehaßt, genau wie ihren Mann, den groben, dümmlichen Paul I., von dem sie nur Brutalitäten und Beleidigungen erfahren hatte.
Den Enkel aus der deutsch-russischen Ehe ihres Sohnes, den Alexander, hatte sie geliebt und für den Thron bestimmt …
Aber die Zarin war – verbraucht – früher und rascher gestorben, als sie selber gedacht. (Mathilde sagte trübsinnig: »Wer denkt bald genug an den Tod?«) Und der immer unterdrückte Sohn, der sich nun endlich mächtig genug zur Rache fühlte, hatte sich jetzt erst eigentlich als der Psychopath entpuppt, der er war: Geschützt durch die unbeschränkte Macht seiner Zarenkrone, ließ er den Leichnam seines Vaters ausgraben und das gekrönte Skelett durch die Straßen führen, voraus die kerzentragenden Günstlinge der toten Mutter, die er für die Mörder hielt, und beide Gatten – zum Hohn – nebeneinander beisetzen …
Katharina saß blaß, mit zitternden Händen, vor der schwatzenden Dame, die sich wichtig damit tat, dem Mädchen die Barbarei der Russen einzureden, und in ihrer Befangenheit nicht sah, daß sie eine völlig Verstörte, Erschütterte vor sich hatte, die sich kaum mehr aufrecht halten konnte. Erst als Katharina fragte: »Die Tante? Hat sie das nicht hindern können?« wurde sie wacher. »Es gab doch Dokumente, ein Testament der Zarin, denke ich …«
Mathilde lachte leise: »Das hat der neue Zar verbrannt.«
»Arme Tante, arme Frau!« Die beiden schwiegen eine Weile. »Sie hat doch bloß Angst vor ihrem Gatten gehabt.«
Mathilde zuckte die Achseln, sie wickelte sich in ihre Pelzdecke, obwohl es im großen schönen Stuttgarter Schloß nicht kalt war – draußen flirrte und flimmerte ein heller Märztag, Militärmusik klang, halbverwischt, herauf, Marschtritt, auch einmal helles Gejubel von Kindern, die wohl dem Zug nachliefen.
Katharina entschuldigte sich, sie müsse zu ihrer Vorleserin zurück.
Das nächstemal, bei einem dieser Pflichtbesuche, kam sie zögernd und hatte sich vorgenommen, gleich nach der formellen Begrüßung ein harmloses Thema anzuschlagen; sie habe, sagte sie zu Mathilde, recht Interessantes über die Bonapartes gehört, von denen jetzt die ganze Welt widerhalle, da der Feldherr Napoleon die Italiener, die Österreicher, sogar den Papst in seine Gewalt gezwungen habe.
Ein Konkordat sei geschlossen worden, meinte die Kurfürstin, und der Papst sitze irgendwo im Exil oder werde es bald tun müssen – diese räuberische südländische Sippe habe nur Fußtritte für Traditionen, und Katharina werde ihr, die in den Formen der High Church erzogen worden sei, keine Sympathien für den Papst zutrauen!
Immerhin, sagte Katharina, sorge dieser Napoleon für seine Familie.
Eine Weile saßen die beiden Damen wieder stumm voreinander. Katharina hatte einiges von Seegefechten und Schiffsbegegnungen, von irgendeiner ärgerlichen Geschichte über den jüngsten Bruder Napoleons, Jérôme, gehört und glaubte, der Engländerin mit einem Lob der Royal Navy Freude zu machen.
Mathilde reagierte anders. Sie wurde unvermutet lauter: »Dieser Scharlatan! Der jüngste und dümmste der Napoleonsbrüder! Er ist mit seiner Brigg – mit neunzehn Jahren hatte man ihn zum Kommandeur gemacht! – nicht etwa befehlsgemäß nach Guadeloupe gesegelt, wohin er sollte, sondern nach dem englischen Dominique! Und bei diesem schon brüchigen Pakt … fair, wie Old England ist, hat man sich noch einmal an den bereits fraglichen Vertrag gehalten, hat Jérôme festlich empfangen, und danach ist er – dieser Blender und Schaumschläger – nach Neuengland gesegelt, nach Baltimore, nach den abtrünnigen Staaten von Amerika!«
Katharina nickte. Allzuviel interessierte sie dieser sichtlich unzuverlässige Bursche nicht.
Mathilde allerdings hatte sich einmal für das Thema erwärmt, nicht Jérômes wegen, dessen ganzes Wesen ihr zuwider war, eher, weil sie trotz aller Abneigung gegen den illegitimen, angemaßten, wildwüchsigen Kaiser seine Faszination spürte und die Gefahr für England und Europa mehr ahnte als sah – dieses völlig Neue, den Elan, die unverbrauchten Gedanken und die unvorhersehbaren Pläne.
Es war die Rede davon, was sich dieser junge Fant, Jérôme, geleistet hatte, als er ein englisches Kriegsschiff angehalten und wie eine Handelsprise gestoppt hatte, als gelte die Blockade auch der bewaffneten englischen Macht. Sein Admiral wütete, man fürchtete, der offene Kampf werde ausbrechen, ehe noch Frankreich dafür gerüstet sei, und war froh, als England nicht zurückschlug. Später, als der Seekrieg zwischen den beiden Mächten wirklich erklärt war, leistete er sich ein echtes Bravourstück, das ihm rühmlich angerechnet wurde: Er steuerte die umstellte und – nach aller Voraussicht – verlorene Veteran durch ein unerhört kühnes Manöver in die Bucht von Concarneau und entzog sie so dem Zugriff der Navy …
Indessen hatte sich sein »großer Bruder« 1804 selber die Krone aufgesetzt und den Papst dabei nur zusehen lassen. Man beobachtete erstaunt, wie er seinen ägyptischen Feldzug aufzog, ein tolles Unternehmen, das von vornherein zum Scheitern verurteilt schien.
Man erfuhr empört von der Hinschlachtung der zweitausend Türken, die er gefangengenommen hatte; ihrem Ehrenwort, nicht mehr zu kämpfen, war nach den früheren Erfahrungen nicht zu trauen, sie zu ernähren war ohne besseren Nachschub unmöglich – man trieb sie mit Schüssen ins Meer.
Mathilde konnte sich in ihrem Barbarenhaß nicht genug tun, freilich lag das englisch-indische Beispiel noch zu fern. Sie wußte vom Befehl Peters des Großen, sein im Krieg durch die Pest bedrohtes Heer durch die Ermordung aller Pestverdächtigen zu retten.
Katharina, bedrückt von allem Düsteren des Riesenreiches, in dem sie ihre früheste Kinderzeit erlebt hatte, sprach von der besseren Regierung der Katharina, und Mathilde ließ den Mord am Zaren, den die Zarin geduldet und geschürt habe, noch einmal auftauchen.
Die junge Katharina mochte ihre Patin nicht beschmutzen lassen – ihr stand das majestätische Gemälde, das der Vater besaß, vor Augen, die herrscherliche schöne Frau im Purpur mit den bannenden dunklen Augen und dem vollen Mund …
Mathilde hielt ihre Plantagenets und Tudors dagegen, den Löwenherz und Heinrich den Zweiten; nur auf die Frage nach den Lebenden, den Hannoveranern, schwieg sie gern: Der schwerkranke, geistig verdüsterte Georg der Dritte hatte wenigstens die beiden Pitts, seine fähigen Minister, die Schlimmeres verhüteten, ehe er an seiner unerkannten Porphyrinurie sterben durfte.
Napoleon also! Das Thema Europas … Lükkenhafte Berichte kamen aus Ägypten, wo der General sich noch immer mit Türken und Arabern schlug, wenig Nachschub und Proviant hatte und einen Kleinkrieg führte, der ihm zwar Ruhm, aber auf die Dauer keinen Landgewinn bringen konnte.
Dafür hatten seine Wißbegier, seine Ungeduld, die Raserei seines immer unbefriedigten Impetus ihn geführt, verführt zu Erkenntnissen, die beinahe hellsichtig waren.
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