Jetzt stand Arnold Miller vor der verschlossenen Wohnungstür und begriff gar nichts mehr. Egon war doch durch den Reiseruf aufgefordert worden, sofort nach Hause zu kommen – aber was sollte das für einen Sinn haben, wenn er gar nicht hineinkam? Aber natürlich, er hatte ja einen Schlüssel, und trotzdem – Rosy oder sonst jemand mußte ihn doch hier erwarten. Oder war er schon vor ihm gekommen? Arnold Miller überlegte, ob er eine Nachbarin fragen oder besser gleich die Tür aufbrechen lassen sollte. Er wollte sich gerade abwenden, als er die Kinderstimmen hörte. Er bückte sich und rief durch den Briefkastenschlitz: »Andy! Chris! Macht auf! Ich bin’s, Onkel Arnold!« – Stille.
»Himmel, laßt mich rein! Wo ist eure Mutter?« Er spürte mehr, als daß er es hörte, wie Rosy schwebenden Schrittes sich näherte, dann kam ihre Stimme von der anderen Seite der Tür: »Bist du es wirklich, Arnold?«
»Verdammt noch mal, wer soll’s denn sonst sein?!«
»Ich hatte dich nicht erwartet.«
»Ich habe den Reiseruf gehört.«
Rosy kicherte plötzlich – höchst unmotiviert, wie es Arnold schien. »Ach so!« Sie schloß die Tür auf, ließ aber die Kette vorgehängt, bis sie sich mit einem Blick überzeugt hatte, daß es wirklich ihr Schwager war, der draußen stand. Sie wirkte in ihrem superkurzen Minikleid, dem rotblonden zerzausten Haar, mit Spuren von Tränen auf den schmalen, fast hohlen Wangen, wie ein verängstigtes und zugleich doch mutwilliges Kind. Die Hand, die sie ihm reichte, war so dünn, daß man die Knöchlein und Sehnen hätte zählen können.
Die Zwillinge schossen aus dem Hintergrund des dunklen Ganges hervor und schrien zweistimmig: »Onkel Anno, Onkel Anno, hassu uns was mittebacht?«
»Nein, diesmal nicht!« Er hob sie einzeln hoch und ließ sich von jedem einen feuchten Schmatz verpassen. Danach verloren sie sofort das Interesse an ihm und schlitterten über die glatten Holzdielen davon.
Arnold sah in die grünen Augen seiner Schwägerin. »Rosy, was ist denn passiert?«
»Passiert?« Sie wiederholte das Wort, als habe sie keine Ahnung, was es bedeutete.
»Ich nehme doch an, daß du Egon hast suchen lassen.« Sie schwieg und zeichnete mit der Schuhspitze Kreise auf den Boden. »Das kannst du doch nicht ohne Grund getan haben«, drang er in sie.
»Ich hatte Angst.«
»Wovor denn?«
Sie zuckte die Achseln. Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »Aber Egon muß doch ohnehin jeden Augenblick nach Hause kommen.«
»So? Meinst du?« Sie warf den Kopf in den Nacken. »Aber das tut er nicht. Er läßt mich allein. Abend für Abend.«
»Mit was für einer Erklärung?«
»Lügen.«
Er legte ihr die Hand unter das Kinn. »Eifersüchtig? Aber, Rosy! Jeder weiß doch, daß Egon ganz vernarrt in dich ist.«
»Und warum läßt er mich dann dauernd allein?« Sie fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen.
»Ich werde ihn mir bei nächster Gelegenheit vorknöpfen«, versprach er, die Türklinke schon wieder in der Hand. »Jedenfalls bin ich froh. Ich habe mir schon schreckliche Sorgen gemacht.«
Sie packte ihn beim Arm. »Bitte … geh nicht!«
»Ich muß nach Hause. Sabine wartet.«
»Aber ich habe Angst!«
»Egon wird jeden Augenblick kommen.«
»Dann bleib wenigstens so lange.« Sie lehnte sich leicht an ihn. »Ich mache dir auch was Gutes zu essen …« Ihr Körper war hart und gespannt, wie verkrampft.
Er mußte sich beherrschen, nicht vor ihr zurückzuzucken wie vor etwas Krankem. Sie wirkte keineswegs verführerisch auf ihn, und noch weniger versprach er sich von ihren Kochkünsten. Aber er brachte es nicht über sich, sie allein zu lassen. Er spürte, daß ihre Angst – Angst wovor nur? – echt war. »Na schön«, sagte er, »ich kann meine Frau ja anrufen.«
Aber dann tat er es doch nicht, und Rosy erinnerte ihn auch nicht daran. Er hätte nicht gewußt, wie er Sabine erklären sollte – jedenfalls nicht am Telefon und nicht in Rosys Gegenwart –, was er in der Wohnung ihres Bruders zu suchen hatte und warum er dort blieb.
Rosy eilte ihm jetzt voraus in das Wohnzimmer, ganz Gastgeberin oder vielmehr ganz Kind, das die geübte Gastgeberin spielt. »Willst du dich nicht setzen?« plapperte sie. »Was darf ich dir anbieten? Mach’s dir bequem!«
Der Raum wirkte chaotisch, aber sie schien das nicht wahrzunehmen. Der Bücherschrank war halb ausgeräumt, ein Teppich zusammengerollt, Stühle auf den Tisch gestellt – alles sah so aus, als habe sie mitten im Großputz die Lust verloren und aufgehört. Sie machte jetzt auch keinerlei Anstalten, ihm etwas anzubieten, nahm einen Stapel Bücher auf, schien nicht mehr zu wissen, was sie mit ihm vorgehabt hatte und ließ ihn auf einen Sessel fallen – den letzten, der noch frei gewesen war.
»Kannst du mir verraten, wohin ich mich setzen soll?« fragte er.
»Wohin?« Sie lachte. »Das ist gut! Du bist immer so witzig, Arnold.«
»Es ist ja nirgends Platz.«
Rosy sah sich um. »Wirklich, du hast recht! Na so etwas! Ich werde dir einen Stuhl aus der Küche holen.«
»Das wäre auch eine Lösung«, gab er zu, »aber ich glaube, es ist besser, wir gehen beide in die Küche und kümmern uns um das Essen, ja? Was soll es denn geben?«
»Ach, irgend etwas«, sagte sie gleichgültig, »ich habe viele Büchsen da. Alles mögliche.«
»Na, dann laß uns mal sehen.« Beim Hinausgehen wäre er beinahe über einen vollen Putzeimer gestolpert. In der Küche sah es besser aus als im Wohnzimmer. Entweder hatte es Rosy fertiggebracht, sie aufzuräumen oder – und dieser Verdacht kam Arnold jetzt – sie hatte sie heute noch gar nicht benutzt. In der Speisekammer stapelten sich Büchsen mit Gemüse, Fleisch oder Eintopf, die aus dem Supermarkt stammten. Da Arnold keine Lust hatte, eine große Kocherei in Gang zu bringen, fragte er: »Wo ist das Brot?«
Rosy begann sofort eifrig in allen Schubladen nachzuschauen und sagte dann: »Nichts mehr da. Egon wird welches mitbringen.«
»Kartoffeln?« Sie schüttelte den Kopf. »Na schön, dann essen wir Würstchen mit Sauerkraut.« Er öffnete die Dosen und bat sie, den Küchentisch zu decken.
Sie tat es auf ihre seltsam unorganisierte Weise, stellte einen Teller hin, legte eine Serviette dazu, holte das Salzfaß, starrte auf das begonnene Werk und schien plötzlich nicht mehr weiter zu wissen. Er erbarmte sich ihrer und sagte: »Vier Teller, Rosy … einen für dich, einen für mich, einen für Christian und einen für Andreas … vier Gabeln … vier Servietten …« Plötzlich ging es, Rosy bewegte sich anstellig. »Und nun leg noch ein fünftes Gedeck auf«, ordnete Arnold an, »für den Fall, daß Egon noch rechtzeitig zum Essen kommt.«
Aus dem Wohnzimmer drang unterdrücktes Quietschen herüber, auf das sie erst achteten, als es in lautes Wut- und Wehgeschrei überging. Arnold Miller riß die Tür auf. »Was ist los?« Im gleichen Augenblick entdeckte er die Bescherung. Die Zwillinge hatten sich gegenseitig mit dem Schmutzwasser bespritzt und waren jetzt völlig durchgeweicht. Der Eimer war umgekippt, und der Boden schwamm.
Rosy, die ihrem Schwager gefolgt war, begann hilflos zu jammern: »Ihr schrecklichen Kinder! Nicht eine Minute kann man euch aus den Augen lassen! Was fange ich denn jetzt nur an? Und Vati muß auch gleich nach Hause kommen!«
»Wisch das Wasser auf!« befahl Arnold energisch. »Ich stecke die Jungen währenddessen in die Wanne!«
»Bloß nicht waschen!« schrie Andreas entsetzt – er war eine halbe Stunde vor seinem Zwilling zur Welt gekommen und etwas schmaler, ein kaum merklicher Unterschied, den nur Eingeweihte entdeckten.
»Nicht waschen«, echote jetzt auch der andere.
Arnold packte die beiden Jungen beim Kragen und zerrte sie in das Bad. Er riegelte die Tür zu, damit sie ihm nicht entwischen konnten. »Marsch, marsch, zieht euch das nasse Zeug aus!« befahl er. Die Badewanne war schmutzig, sie hatte einen breiten dunklen Rand, und an den Wänden klebten Haare. Arnold nahm es eher mit Verblüffung als mit Entsetzen wahr. Er erinnerte sich nicht mehr, wann er zuletzt so etwas gesehen hatte. Zu Hause war das Bad immer sauber, ob er es morgens oder abends betrat.
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