Eva Schörkhuber - Die Gerissene

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Mira hat genug vom Landleben. Schon seit ihrer Kindheit fühlt sie sich im Dorf fremd und unverstanden. Ohne einen Cent in der Tasche reist sie in die Welt hinaus, um ihren Platz darin zu finden. In Marseille macht sie sich mit dem Upcycling alter Kleidung einen Namen, in Oran näht sie aus Djellabas Minirocktaschen und in der Sahara schließt sie sich einer Reisekarawane an und arbeitet in einem Flüchtlingscamp mit. Stets begegnet Mira den Menschen und Umständen mit wachem, kritischem Blick und dem Drang, einen Beitrag zu leisten. Als in Havanna ihre Erwartungen auf eine echte, lebendige Revolution enttäuscht werden, gründet sie eine neue aufständische Bewegung. Wieder steht Mira vor einer Chance, die Welt zu einem besseren Ort zu machen. Doch diesmal muss sie alles riskieren.
Ein Roman mit feiner Ironie und sprachlicher Finesse, der sich mit dem Status quo nicht zufrieden gibt und eine zeitgenössische Schelmin zur Hauptfigur macht.

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EVA SCHÖRKHUBER

DIE GERISSENE

ROMAN

Ich lasse mein Wort dort wo ich es begonnen habe Die Welt ist eine helle - фото 1

Ich lasse mein Wort dort, wo ich es begonnen habe .

Die Welt ist eine helle Dunkelheit .

Sprichwörter aus Mali

Inhalt

PROLOG

1. KAPITEL

2. KAPITEL

3. KAPITEL

4. KAPITEL

EPILOG

PROLOG

So viele Wendungen mein Leben auch genommen, so viele Höhen- und Tiefflüge es auch vollzogen haben mag, der Sternenhimmel ist mir nie die Landkarte der gangbaren und zu gehenden Wege gewesen. Das Licht der Sterne hat meine Wege stets in jenes blau gewandete Zwielicht gehüllt, in dem der Horizont verblasst und sich nicht mehr von dem Wogen, dem Auf und Ab einer irdischen Existenz unterscheiden lässt. Ich habe zwar das eine oder andere Mal nach den Sternen gegriffen, ja, auch ich wollte Teil sein der Gestirne, die eine leuchtende Krone bilden, doch habe ich nie davon absehen können, dass der Großteil unseres Universums aus unsichtbarer, dunkler Materie besteht. Ihr ist es zu verdanken, dass sich alles in seinen Umlaufbahnen bewegt, dass alles um irgendetwas anderes kreist.

Wo viel Licht ist, ist noch mehr Schatten, ein kompakter, undurchdringlicher Schatten, der mich gehen und atmen lässt. Das Universum ist eine riesige Saite, die in die Existenz hinein- und hinausschwingt, sich ausdehnt und dabei Klänge erzeugt, die einmal sagenhaft harmonisch, einmal ausgesprochen disharmonisch erscheinen. In Wahrheit handelt es sich um eine furchtbare Kakophonie, um einen wüsten und elementaren Klang, der auf nichts anderem als auf Zufall beruht – so wie das Leben, so wie mein Leben, das sich, wie das gesamte Universum, in der Einsamkeit eines einzigen Teilchens begründet. Durch Zufall ausgeschlossen aus dem großen Gleichgewicht der Energie hat es sich aufgemacht, hat es sich auf die Suche begeben nach einer Bahn, in der es kreisen kann. Ein überschüssiges Elektron, ein freies Radikal, ein aus einer sozialen Umlaufbahn herausgesprengtes Individuum, ich kann es nennen, wie ich will. Zu allen Zeiten, an allen Orten haben Teilchen dieser Art, manche würden bestimmt auch sagen: dieser Unart, den gewohnten Lauf der Dinge verändert, haben neue Bahnen eröffnet oder etwas Neues in Umlauf gebracht.

Schon vor meiner Geburt bin ich gewissermaßen ein Anstoß dafür gewesen, die gewohnten Bahnen zu verlassen. Meine Großeltern hatten miterlebt, wie es ist, wenn sich der Lauf der Dinge verändert. Auf den Straßen ihrer Stadt hatten sie gemeinsam mit Tausenden Menschen das Neue für sich in Anspruch genommen und hatten es so lange verteidigt, bis die Panzer kamen und alles niederwalzten. Alles, das sich im Frühlingswind geregt hatte, wurde planiert und wieder in die gewohnten Bahnen gelenkt, alles, bis auf die Erfahrung, gemeinsam etwas in Bewegung versetzt zu haben. Diese Erfahrung saß tief in den Herzen und Köpfen der Menschen, und so konnten sich meine Großeltern nicht damit abfinden, dass ihre Kinder und Enkelkinder dort aufwachsen sollten, wo ihr Bestreben nach Veränderung niedergeschlagen worden war. Sie zogen gemeinsam jeweils mit ihren Kindern in ein Nachbarland, zuerst in eine provisorische Unterkunft auf einem Feld, dann in eine Stadt. Ihre Kinder lernten mühsam die neue Sprache und fanden, da sie niemand anderen hatten, schnell zueinander. So kam mit der Zeit auch ich ins Spiel. Ich bin schließlich Grund und Anstoß dafür gewesen, dass sich meine Eltern von ihren Eltern lösten, um auf eigenen Beinen zu stehen. Sie fanden eine Anstellung in dem Schlachthof eines Dorfes, in dem sie in der Nähe des Friedhofs ein kleines Haus mit Garten anmieteten. Meine Großeltern blieben in der Stadt, schlugen sich mit Haus- und Reparaturarbeiten durch und kamen alle paar Monate auf Besuch.

In meinen ersten Jahren war ich der Augenstern meiner Eltern, der ihnen den Weg wies, hinaus in ein besseres Leben. Ich aber, ich wusste von Anfang an, dass mir die Einsamkeit jener Teilchen vorbehalten war, die den gewohnten Lauf der Dinge verändern. Genau wie sie kreiste ich um mich selbst, auf der Suche nach Bindungen, nach Verbindungen, die ich eingehen konnte, um etwas Neues in Umlauf zu bringen. Ich wollte andere für mich einnehmen, nicht um ihnen zu gefallen oder Beifall zu ernten, nein, ich wollte mich in meiner ganzen Person angenommen fühlen, ein einnehmendes Wesen nicht nur haben, sondern auch sein.

Leider muss ich sagen, dass ich in den Augen der meisten Menschen überhaupt kein einnehmendes Wesen hatte, geschweige denn war. Immer war ich etwas zu klein und etwas zu dunkel, wobei sich diese Dunkelheit nicht an physischen Merkmalen festmachen ließ. Als ich klein war, blieben wildfremde Menschen stehen, um mir über meinen kastanienbraunen Kurzhaarschopf zu streicheln und meine grasgrünen Augen zu loben, die, so meinten sie, einen besonders wachen, einen besonders intelligenten Ausdruck hätten. Tatsächlich hatten sich meine Augen längst schon auf die Suche nach jenen Stellen begeben, an denen ich die lieben Onkel und die lieben Tanten, die mir im Vorübergehen ihre zärtliche Aufmerksamkeit schenkten, schmerzhaft treffen konnte. Meine Augen glitten an ihren Gestalten entlang wie über ein festes Gewebe, aus dem sich letzten Endes doch noch ein oder zwei Fäden ziehen ließen, auf dass es seine Form und seine Fassung verliere. Und an diesen Fäden zog ich. Einer der lieben Tanten, die sich zu mir hinunterbeugte und mir die Wangen tätschelte, zerriss ich die seidenen Strümpfe. Zuerst dachte sie, es sei ein Versehen gewesen und nahm mich meiner verärgerten Mutter gegenüber in Schutz. Das sei doch nicht schlimm, meinte sie, und das könne doch passieren. Um kein Missverständnis aufkommen zu lassen, zerriss ich auch den zweiten Strumpf, und zwar mit einer derart offensichtlichen Vorsätzlichkeit, dass die Tante mit vor hilflosem Zorn verzerrtem Gesicht aufsprang und meine Mutter anschrie, was für ein entsetzliches, was für ein verdorbenes und unmögliches Kind ich doch sei. Einem der lieben Onkel wiederum, der sich vor mich hinkniete, um mir einen Karamelllutscher zu überreichen, riss ich den Hut samt Toupet vom Kopf. Eine Schrecksekunde lang bewegte sich niemand. Wie eines der bronzenen Figurenensembles, die in manchen Städten die Straßenzüge zieren, standen wir da: ein glatzköpfiger Mann mit einem Karamelllutscher in der Hand, der vor einem Mädchen kniete, das einen karierten Hut und eine schwarze Perücke in den Fäustchen hielt. Hinter dem Mädchen die Mutter, mit offenem Mund und in die Höhe gestreckten Armen. Wären wir länger so dagestanden, wären wir bestimmt in die Kameraaufmerksamkeit vorbeischlendernder Tagestouristen geraten, sie hätten vor unserem Ensemble posiert und sich vor uns im Hintergrund abgelichtet. So weit ist es aber nicht gekommen, denn der Onkel, seiner Haarpracht beraubt, sprang auf, riss mir Hut und Toupet aus den Händen und stapfte davon, ohne ein weiteres Wort zu verlieren. Nur den Karamelllutscher warf er mir wie einen Fehdehandschuh noch vor die Füße. Ich lachte, hob ihn auf und hätte ihn mit Genugtuung verzehrt, hätte ihn mir meine Mutter nicht aus der Hand gerissen. Meine Eltern haben sich oft gegrämt wegen meiner dunklen Seite, sie haben alle möglichen pädagogischen Maßnahmen gesetzt, von unnachgiebiger Strenge bis hin zu verständnisvoller Milde hat ihr Repertoire gereicht – und versagt. Ich bin einfach nicht gut angekommen.

1. KAPITEL

Wie Mira in Marseille Mülltonnen durchwühlte und

dabei zur berühmten Modeschöpferin avancierte

So viele Wendungen mein Leben auch genommen, so viele Rückschläge ich auch hingenommen haben mag, es sind immer wieder jene hellen Momente aufgetaucht, die mich aus einer misslichen Lage befreit, die eine unglückliche Situation plötzlich in einem anderen Licht haben erscheinen lassen. Viele haben gemeint, dass ich ein Glückspilz sei, ein Sonntagskind. Davon aber kann keine Rede sein, sondern vielmehr davon, dass mich das Unglück stets begleitet hat, so wie jener kompakte und undurchdringliche Schatten, der mich gehen und atmen lässt. Nur hat sich mein Unglück in manchen Momenten derart verdichtet, dass es sich, solcherart zur Potenz genommen, in Glück verwandelt hat.

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