Erhard Schümmelfeder
DIE ERMORDUNG MEINER FRAU
Zehn rabenschwarze Kerbholz-Geschichten
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Inhaltsverzeichnis
Titel Erhard Schümmelfeder DIE ERMORDUNG MEINER FRAU Zehn rabenschwarze Kerbholz-Geschichten Dieses ebook wurde erstellt bei
DIE FLIEGE DES BISCHOFS
DER MANN IM REGEN
DIE GOLDENE MÜNZE
BRAIN
SPÖTTERDÄMMERUNG
SCHWARZROCK
DER TREPPENWOLF
TRISTRAMS HANDY
KLINGELMÄNNCHEN
DIE ERMORDUNG MEINER FRAU
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Impressum neobooks
Das Füttern der Hühner war für die alte Mary die erste Arbeit eines neuen Tages. Auch an ihrem zweiundachtzigsten Geburtstag schlurfte sie im morgendlichen Sonnenschein über die Terrasse ihres Hauses, überquerte den noch taufeuchten Rasen und öffnete die knarrende Tür des Hühnerstalls. Aus den Futtertonnen unter dem Fenster gab sie den Hühnern heute nur eine Handvoll Maiskörner, eine Schaufel Fischmehl und füllte frisches Wasser in den Trog. Danach schloss sie die Stalltür hinter sich und ging zum Haus zurück. Erst später wollte sie die Tiere im Freien laufen lassen.
Ihr Blick in den blauen Himmel wurde getrübt durch das Wissen, dass die am Horizont erkennbaren Schönwetterwolken sich leicht in Gewitterwolken verwandeln konnten. Aus den Obstbäumen, die das Haus umstanden, tönte jubilierender Vogelgesang. Fred hatte den Klang der trillernden Stimmen immer als „himmlisch“ bezeichnet. Auf den naheliegenden Einfall, ein Netz über das Gemüsebeet zu spannen, weil die gefiederten Spatzenteufel die Samen aus der lockeren Erde herauspickten, war er nie gekommen. Noch heute schüttelte sie den Kopf über seine Gedankenlosigkeit. Die Vogelscheuche mit dem grotesken Hut und dem struppigen Besen in der Gartenmitte, Freds letzte Tat auf Erden, hatte ihre abschreckende Wirkung längst verloren.
Fast hastig nahm sie anschließend am Küchentisch ihr Frühstück ein, räumte das Geschirr auf die Spüle und begann mit den Vorbereitungen für das Mittagessen. Ein Blick auf die Wanduhr über der Sitzbank verriet ihr, dass es keinen Grund für übertriebene Eile gab, denn bis zwölf Uhr waren es noch drei Stunden Zeit. Dennoch verspürte sie eine stärker werdende Unruhe, die sie veranlasste, ihre Bewegungen zu beschleunigen. Als Mutter von fünf Kindern hatte sie früher für eine siebenköpfige Familie gekocht, den gesamten Haushalt erledigt, den Garten, die Hühner und die Schweine versorgt. Ihre Söhne und Töchter hatten das Haus längst verlassen. Nach dem Tod von Fred waren ihr nur die Hühner und der schwarze Kater geblieben. Ein Treffen der Familie war immer verbunden mit Aufregung, gegen die sich nicht zu wehren vermochte. Der Kater, dachte sie – ja, auch ihn musste sie noch füttern. Aus dem Kühlschrank holte sie die Dose mit Pansen hervor und füllte auf der Terrasse den Fressnapf. Als sie den zweiten Teelöffel mit Futter am Rand des Napfes abstreife, vernahm sie das Miauen des Katers, der vom Dach des Holzschuppens herunterkletterte und zu seiner Mahlzeit lief. Gierig verschlang er das Fleisch und blickte erwartungsvoll zu ihr auf.
Etwas hatte sich in Marys Leben in den zurückliegenden Jahren nie verändert: Zu Mittag wurde pünktlich um zwölf gegessen. Pünktlichkeit war nicht nur ein Wort. Wer zu spät erschien, musste seinen Hunger bis zum Abendbrot ertragen. In diesem Punkt ließ sie nie mit sich verhandeln. Alle Kinder hielten sich bis heute an das ungeschriebene Gesetz. Von ihrem Küchenfenster blickte Mary zur Einfahrt des Grundstückes. Ein Auto näherte sich ihrem Anwesen. Das Motorengeräusch wurde lauter. So klangen nur die Autos, die aus Paderborn kamen: störend, frech und überheblich. Nein, vor zwölf würde niemand zum Essen erscheinen. Der für den Bruchteil einer Sekunde erkennbare grüne Wagen, der nun auf der Straße an ihrem Garten vorbeifuhr, bestätigte ihre Einschätzung.
Zuerst rührte sie den Nachtisch an: Weincreme, die sie in die langstieligen Blütenkelchschalen verteilte, stellte sie in den Kühlschrank. Als Nächstes schnitt sie die abends zuvor geschälten sechs Kartoffeln in schmale Spelten, verteilte sie auf dem Backblech und überstrich sie mit einer pikanten Gewürzsoße. In den vorgeheizten Backofen schob sie das Blech mit dem, was sie insgeheim „Hauptspeise“ nannte. Bald schmurgelten die halbierten Champignonpilze in der Pfanne, wobei sich in der Küche ein appetitanregender Duft verbreitete. Vor der Terrassentür miaute der Kater. Er hatte seine Tagesration bekommen. Nun sollte er zufrieden sein.
Da Mary ihren Gästen nie Fleisch anbieten würde, entschloss sie sich, auch diesmal zu den Kartoffeln einen sättigenden Salat anzubieten: Tomaten, Gurkenscheiben, Mais, Paprika und gewürfelten Käse. Sie hob den Kopf und lauschte, als sie erneut ein Auto vernahm. Wieder empfand sie dieses Gefühl einer Beklemmung im Herzen. Die beiden Betonpfeiler, die links und rechts ihrer Einfahrt standen, bildeten den Rahmen für den Blick auf die gewundene Landstraße, die sich in Richtung Paderborn zwischen den Kornfeldern verlor. Diesmal war es ein rotes Auto. Michaela besaß ein solches Fahrzeug. Ines hatte nicht einmal einen Führerschein. Robert und Ansgar wechselten ständig ihre Autos. An die Farbe von Dieters Wagen konnte sie sich nicht mehr erinnern. Sie wurde alt. - Wieviel Zeit blieb noch bis zum Mittagessen?
Bsssssssssssssss ... bssssssssssssssssss ...
Das heisere Summen einer Fliege ließ sie aufhorchen. Nach der Lautstärke des Summens zu urteilen, konnte es kein kleines Insekt sein. Am meisten hasste sie die dicken schwarzen Fliegen mit bläulich schimmernden Flügeln, denn die wurden ihr vom Bischof aus Paderborn geschickt. Sie wusste auch, warum: Weil sie seit siebzig Jahren nicht mehr gebeichtet hatte. Aber das war ihre Sache. Der Bischof sollte sich um seine eigenen Angelegenheiten kümmern. Da lag ja wohl auch einiges im Argen. Sie hatte da etwas gehört in den Nachrichten. Aber Genaues wusste sie nicht. Lauernd ließ sie ihren Blick durch die Küche gleiten. Wo steckte das Biest? Beim Herd? An der Lampe? Auf einer Stuhllehne? Nein. Vielleicht an der Scheibe des schräg gekippten Fensters? Auch nicht. Sie würde es noch entdecken. Sie duldete keine Fliege in der Küche. Mit einem Griff holte sie die Klatsche, die an einem krummen Nagel in der Wand neben dem vergilbten Kalender mit den Stadtansichten von Paderborn hing. Na warte, dachte sie und lauschte mit wachsendem Zorn.
Neben dem Ticken der Küchenuhr und dem Brutzeln der Pilze in der Pfanne hörte sie das Miauen des Katers an der Terrassentür. Ein weiteres Geräusch weckte ihre Aufmerksamkeit: Die Hühner im Stall wurden unruhig. Gackernd flatterten sie gegen die trüben Scheiben neben der Brettertür. Sie drängten darauf, in den warmen Sonnenschein zu gelangen. Aber sie würden sich gedulden müssen.
Bssssss, machte es hinter ihr, als sie einen Blick in den Backofen warf. Der aufsteigende heiße Dampf beschlug ihre Brille. Mit dem Zipfel ihrer Schürze wischte sie über die runden Gläser. Hilflos fuchtelte sie mit der Klatsche durch die Luft. Nein, so würde sie die Fliege niemals treffen. Mit einem Ruck riss sie die Terrassentür auf, damit das Tier nun ins Freie hinausfliegen würde. Stattdesdessen huschte der Kater in die Küche, hob witternd den Kopf und blickte sich nach Fressbarem um. Miauend kam er näher. Sein Schwanz legte sich um ihre schwarzbestrumpften Waden, die unter dem langen Rock zu sehen waren. Ein unangenehmes Kitzelgefühl ließ sie zu Boden blicken. Ärgerlich gab sie dem Kater einen Fußtritt, so dass er aufjaulend gegen ein Tischbein geschleudert wurde. Geduckt zog er sich in den dunklen Winkel beim Abfalleimer zurück. Mit der Fliegenklatsche scheuchte Mary ihn auf die Terrasse hinaus. Tiere hatten in ihrer Küche nichts zu suchen.
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