Elfmal tönten die Weihnachtsglocken vom Paderborner Dom zu ihr herüber. Wieder einmal hatte der Bischof den Glöckner beauftragt, die Weihnachtsglocken zu läuten, obwohl heute Ostern war. Ihr Widersacher wurde allmählich senil – soviel stand fest. Mit seinem Latein war er längst am Ende. So leicht ließ sie sich nicht hinters Licht führen. Noch fielen Weihnachten und Ostern nicht auf einen Tag. Oder war doch schon wieder Weihnachten? Nein. Entschieden schüttelte sie den Kopf.
Bald darauf kramte Mary aus dem Flurschrank die weiße Tischdecke, die sie draußen auf dem Rasen über den Gartentisch legte, nachdem sie diesen gründlich gesäubert hatte. Auch die gusseisernen Stühle rieb sie ordentlich ab und verteilte auf alle Sitzflächen die Polster, die sie aus dem Gartenhaus neben dem Hühnerstall holte. Seit Fred sich an einem Dachbalken erhängt hatte, wurde das Gartenhaus nur noch als Abstellraum benutzt. Im Schatten des Walnussbaumes hatte sie früher bei abendlichen Essen zwei Kerzenleuchter auf den Tisch gestellt, weil sich auf diese Weise die lästigen Mücken ein wenig fernhalten ließen. Bei einem Mittagessen im Sonnenschein erschienen ihr zwei blaue Vasen mit roten, gelben und orangefarbenen Tulpen zweckmäßiger. Noch immer war der Himmel blau, aber mehr und mehr Wolken schoben sich über den Horizont. Das bedeutete nichts Gutes. Sie erinnerte sich genau: Seit die Amerikaner einst auf dem Mond gelandet waren, gab es auf der Erde immer häufiger schlechtes Wetter. Einige Leute aus dem Dorf hatten versucht, sie von dieser Meinung abzubringen. Aber sie ließ sich nichts sagen.
Für das Decken des Tisches wählte sie das Silberbesteck und die Gläser, die Fred immer als „die Guten“ bezeichnet hatte. Sie vergaß auch nicht die halbe Flasche Rotwein, die seit Jahren im Keller verstaubte. Das Fürstenberggeschirr mit Goldrand bestückte sie bereits in der Küche mit den dampfenden Speisen, stellte sie auf den Servierwagen und rollte diesen vorsichtig über den Rasen zum Tisch. Im Stall scharrten und flatterten die Hühner. Noch mussten sie sich gedulden. Mit kritischem Blick prüfte Mary die Portionen auf den Tellern. Wie immer hatte sie sich an ihren Grundsatz gehalten: Kleine Portionen! Sie verabscheute Gier. Als Mutter von fünf Kindern kannte sie die Menge an Nahrung, die der Gesundheit jedes Einzelnen förderlich war. In diesem Punkt gab es keine Diskussionen.
Gleich zwei Wagen fuhren mit aufheulenden Motoren vorbei in die Richtung des Dorfes. Der schwarze Kater kroch unter den Tisch und beobachtete aus seinem Versteck das Geschehen. Sein Miauen hatte nichts zu bedeuten. Hoffte er auf eine Ausnahme von der geltenden Fütterungsregel? Da konnte er warten, bis er schwarz wurde. Unsinn, dachte sie. Schwarz war er ja bereits.
Bssssssssssssssssssss... bsssssssssssssssssssssssss ...
Die Sonne hatte ihren höchsten Punkt erreicht. Ihr eigener Schatten bestätigte Mary die Richtigkeit ihrer Wahrnehmung. Vom fernen Paderborner Dom vernahm sie die zwölf Glockentöne: laut, frech, überheblich. Der Bischof gab keine Ruhe. Er sollte vor seiner eigenen Tür kehren. Sicher hatte er auch etwas zu beichten. Genaues wusste sie nicht. Aber sie kannte diese scheinheiligen Pharisäer, die im Grunde alle gleich waren. Von Prinzipien schwafelten sie nur, ohne sich selbst daran zu halten.
Noch dampften die heißen Speisen auf den Tellern. Ein näherkommendes Auto ließ sie zur Einfahrt blicken. Auch dieser Wagen fuhr vorbei. Mary war daran gewöhnt. Seit zehn Jahren lebte sie allein. Bis zum Ende ihrer Tage auf Erden würde sich dieser Zustand nicht ändern. Auch ihre Prinzipien würde sie nicht ändern. Das stand fest. In ihren Ohren klangen noch immer die flehentlichen Bitten ihrer Kinder, wenn sie sich zum Essen verspätet hatten. Das Jammern hatte sie nie beeindruckt. Im Gegenteil: es bestärkte sie darin, das Mittagessen lieber den grunzenden Schweinen vorzuwerfen, als ihrem eigenen Grundsatz untreu zu werden. Wer zu spät zum Essen erschien, musste mit den Folgen rechnen.
Mit einem Seufzer ging Mary zum Hühnerstall, öffnete die knarrende Tür und ließ das Federvieh ins Freie laufen. Zögerlich näherten sich die braunen Hühner dem Tisch in der Rasenmitte. Der bunte Hahn hüpfte flügelschlagend als Erster auf die festlich gedeckte Sonntagstafel. Fast gleichzeitig machten es ihm die anderen elf Hühner nach. Zuerst fiel ein Nachtischkelch auf den Rasen. Die Rotweinflasche stürzte um und tränkte das weiße Tischtuch in ein blutiges Rot. Mit Eifer begannen die Tiere von den köstlichen Speisen zu picken. Nun sprang auch der Kater auf den Tisch. Mary konnte und mochte nicht länger zuschauen. Gier war ihr zuwider. Sie drehte sich um und schlurfte zurück ins Haus. Vom Küchenfenster aus, wo sie im Stehen von einem trockenen Brotknust nagte, warf sie einen letzten Blick auf das wilde Fressen der Hühnerschar. Mit solchen Kreaturen würde sie sich nie an einen Tisch setzen.
Bssssssssssssssssssssssssssssss...
Nun wusste sie, dass die dicke Fliege sich noch in der Küche aufhielt. Aber wo steckte sie?
Kontrollierend ließ Mary ihre zu Schlitzen zusammengekniffenen Augen durch den Raum gleiten. Ihr Blick blieb haften an dem krummen Nagel, der die Fliegenklatsche hielt. Sie streckte ihre runzelige Hand aus und umfasste den langstieligen Griff, während ihre Augen jeden Winkel der Küche nach der summenden Fliege absuchten.
Aha. Auf der Brotmaschine.
Zack!
Zum ersten Mal seit langer Zeit lächelte Mary wieder, denn es war ihr gelungen, eine Fliege des Bischofs für immer zum Schweigen zu bringen.
Ich versuche mir vorzustellen, was meinen Freund Dr. Bieger an jenem Abend veranlasste, während der Fahrt den Fuß auf die Bremse zu setzen und den Wagen auf dem Grasstreifen neben der Straße ausrollen zu lassen. Was er sah, war ein fremder Mann im Regen, allein, weit entfernt vom Hamelner Stadtrand. Hierauf beschränkte sich seine Wahrnehmung. Dann öffnete sich bereits die Tür: Novemberwetter. Der hereinwehende nasskalte Wind gab ihm das Gefühl, richtig zu handeln. Es war die spontane Entscheidung einer einzigen Sekunde seines Lebens.
»Die meisten Leute lassen einen im Regen stehen«, sagte der Mann, als der Wagen sich wieder in Bewegung setzte.
Hatte er vorhin nicht den gleichen Gedanken gehegt, als er die Gestalt des Fremden in der Ferne am Straßenrand erblickte? Ein Gefühl des Unbehagens ergriff ihn mit einem Mal. Lag es an dem Mann? Wie alt mochte dieser sein? Gewiss über sechzig. Kannte er ihn?
Er wollte etwas zur Verteidigung der Autofahrer sagen, suchte bereits nach vernünftigen Gründen, im Zweifelsfall an jedem Tramper vorbeizufahren, doch nickte er nur und konzentrierte sich auf die Straße, die im gleißenden Licht eines entgegenkommenden Lasters aufhellte. Er richtete seine Augen auf den rechten Randstreifen, um sie vor der Blendung zu schützen.
»Man muss bei diesen großen Lastern aufpassen, dass man nicht unter die Räder gerät.« Er blickte zur Seite und sah den verfilzten weißen Bart des Mannes. Nur sehr langsam hob er die Hand, um sie über das Gesicht zu streichen: War dies nicht die Geste eines Menschen vor einer schweren Entscheidung? Das durchnässte weiße Haar wirkte im Lichtschein eines entgegenkommenden Autos beinahe drahtig. Aber erst der lange weiße Bart gab ihm das Empfinden, den Mann bereits einmal gesehen zu haben. Wo nur?
Er wollte eigentlich keine Konversation, keine zwanghafte Höflichkeit. Es war sicherer, nichts über sich preiszugeben. Auch der Fremde schwieg, was er als Unhöflichkeit empfand. Schließlich schaltete er das Radio ein. Weihnachtliche Streicherklänge: Stille Nacht . Der Mann hustete und blickte durch die Seitenscheibe in die Dunkelheit. Schneeflocken mischten sich in den Regen..
Er räusperte sich und fragte: »Haben Sie Ihren Bus verpasst?«
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