Die Autorin
Eva Schörkhuber, 1982 in St. Pölten geboren. exil-literaturpreis 2012, Theodor-Körner-Preis 2013. Studiert(e), arbeitet(e) und lebt(e) in Oran, Marseille und Wien (als freie Autorin, als Dramaturgin, Lehrbeauftragte, Lektorin und Redakteurin beim textfeld südost) und schreibt an ihrer Dissertation. Veröffentlichungen in Zeitschriften und Anthologien, zuletzt: Der Stoff, aus dem (in: literatur exil preise 2012), Textadaptionen für die Bühne, zuletzt: Die Schmerzmacherin (Regie: Alex.Riener, Uraufführung 2012 im Theater Drachengasse). Gemeinsam mit Elena Messner Konzeption und Durchführung der Wiener Soundspaziergänge.
Die Textlicht-Reihe
Textlicht ist junge Literatur in einem handlichen Format, für daheim oder unterwegs – die Bücher der Textlicht-Reihe sind hochwertige und unterhaltsame Literatur, die unter die Haut geht und im Kopf bleibt.
Eva Schörkhuber
Erzählung
Und all diese Blicke,
sie treiben sich herum in meinen Gedanken.
Ich, ich möchte sie zusammenfügen
zu Gebilden, die Wache stehen
vor den Toren meiner Welt.
Und die Einlass gewähren
und die sich verschließen
mir
anderen
1. Flüchtige Blicke 1.
0. Ich sehe
I. Flüchtiger Blick 18:28:17 (Flügel)
II. Flüchtiger Blick 22:20:07 (Schlaf)
2. Sleeping Heads
0. ich sehe
I. Sleeping Head 18:24:28 (Flucht)
II. Sleeping Head 07:12:19 (Husten)
III. Sleeping Head 07:05:19 (Falten)
3. Talking Heads
0. Ich sehe
I. Talking Head 16:26:12
II. Talking Head 14:12:16 (BLICKE)
1.
Einige werfen mir einen Blick zu, einige, einige von ihnen, sich ihrer und irgendwo auch meiner gewahr. Sie werfen mir manchmal einen Blick zu, sie, die sich auf den Weg machen den Gang entlang, den kleinen, schmalen, sie, die ihrer Wege gehen über den grauen Linolboden, der immer etwas nach Spülmittel riecht. Was ich nicht sehe. Was ich aber weiß. Die Blicke, die sie mir zuwerfen, ich fange sie immer auf. Flüchtige Blicke. Verstohlene. Herausfordernde. Fragende. Über den Plafond wandernde. Streunende. Von einer Neonlichtzeile zur nächsten stolpernde Blicke. Manchmal wissen sie nicht genau, wohin sie ihren Blick werfen sollen. Und doch löst er sich von ihren Gesichtern und fliegt auf, fliegt an die Decke, an der er sich schließlich entlangtastet. Vorsichtig. Am liebsten sind mir, ich muss es gestehen, die flüchtigen Blicke. Sie haben es sehr eilig, sich von den Gesichtern abzusetzen, aufzufliegen. Die Gesichter haben keine Zeit, ihnen eine bestimmte Absicht mit auf ihren Flug – nein, in ihrem Fall ist es ein Sprung, auf ihren Sprung also zu geben. Diese flüchtigen Blicke, sie sind immer etwas unbestimmt. Zweideutig. Von mir lassen sie sich nicht so einfach, so mir nichts dir nichts ausweisen. Ich verdenke es ihnen nicht. Ich lasse mich gerne hinters Licht führen, von ihnen, den flüchtigen Blicken. Ich registriere sie, ich befrage sie, ich versuche, einen, vielleicht sogar den Grund zu finden, warum sie bei mir gelandet sind. Von ein und demselben Gesicht können unterschiedliche Blicke auffliegen. Einmal unbefangen, einmal mit unverhohlenem Misstrauen. Ich mache mir nichts aus Gesichtern. Die Blicke aber, die merke ich mir, die erkenne ich wieder. So kann es sein, dass ich während meiner langen Tage sehe, wie sich ein und derselbe Blick von verschiedenen Gesichtern löst, damit ich ihn auffangen kann. Je nach Schrittgröße und Gehtempo haben die Blicke in etwa sechs, sieben Schritte Zeit, aufzufliegen. Wenn sie, die sich auf den Weg gemacht haben den Gang entlang, den kleinen, schmalen, wenn sie ihren Weg über den grauen Linolboden, der immer etwas nach Spülmittel riecht, zurückgelegt und den Aufzug erreicht haben, sind sie nicht mehr im Bilde. Sie können mir keinen Blick mehr zuwerfen. Und ich kann ihn nicht mehr auffangen, ihren Blick.
Ich muss gestehen, ich sammle die Blicke, die mir von den einigen, von einigen von ihnen zugeworfen werden. Ich spiele die Bänder noch einmal ab, einmal zeitrafferschnell, einmal zeitlupenlangsam, je nachdem, ob ich an eine Stelle komme, an der mir ein Blick zugeworfen worden ist. Finde ich einen Blick wieder, den ich im Laufe meines langen Tages aufgefangen habe, stoppe ich das Band und fotografiere den Bildschirm. So haben sich während meiner langen Tage, über die Monate und Jahre hinweg, viele, viele Blick-Bilder angesammelt, ein Blick-Archiv, das ich angelegt habe und in größter Ordnung halte. Die Blicke, die mir zugeflogen sind, die ich aufgefangen und festgehalten habe, habe ich nach ihren Absichten einerseits, nach Zeitpunkten andererseits sortiert. Andere Gesichtspunkte sind mir unerheblich erschienen. Die Absichten haben sich durch die Jahre hindurch und mit zunehmender Blick-Menge verfeinert, ja im Grunde immer mehr vereinzelt. Während ich zu Beginn meiner Sammlung über zirka zehn absichtsvolle Kategorien verfügt habe – die suchenden Blicke, die fragenden, die misstrauischen, die unbedarften, die neugierigen, die frechen, die provokanten, die ängstlichen, die panischen – verfüge ich jetzt über zirka zweiundzwanzigtausend – die panisch-suchenden Blicke, die misstrauisch-fragenden, die unbedarft-neugierigen, die neugierig-frechen, die provokant-fragenden, die ängstlichen-und-daher-provokanten, die ängstlichen-und-daher-frech-provokanten und so weiter. Es gibt heute eine nicht zu vernachlässigende Anzahl absichtsvoller Kategorien, denen ich bislang lediglich einen Blick zuordnen konnte, die ich also eigens für einen speziellen Blick entworfen habe. Nur die flüchtigen Blicke, sie sind eine große, undurchschaubare und absichtslose Kategorie für sich, die beinahe die Hälfte meiner Blicke umfasst. Bei den Zeitpunkten bin ich so genau wie möglich, und da ich die einzelnen Zeitpunkte bis auf die Sekunde von den Bändern ablesen kann, sind meine Blicke mit vierzehnstelligen Ziffern versehen – sechs für die exakte Uhrzeit und acht für das Datum, wobei mir die Uhrzeit wesentlich mehr Aufschlüsse über das Verhalten der aufgeflogenen, von mir aufgefangenen und festgehaltenen Blicke erlaubt. Es gibt einige Verhaltensweisen, die offenkundig einer bestimmten Logik folgen, einer Logik, die weniger mit der Tageszeit als mit den Zahlen selbst zu tun zu haben scheint. So befindet sich in meinem Blick-Archiv eine ansehnliche Anzahl der ängstlichen-und-daher-frech-provokanten Blicke, die die sechsstellige Ordnungszahl 07:07:07 tragen, während die ängstlich-zurückhaltenden-aber-eigentlich-neugierigen vorwiegend mit der Zahl 07:08:09 versehen sind.
Ich weiß, dass ich die Blicke, die mir im Laufe meiner langen Tage zufliegen, die mir zugeworfen werden von ihnen, von einigen von ihnen, sich ihrer und meiner irgendwo gewahr, dass ich diese Blicke nicht festhalten, nicht sammeln dürfte. Dass ich dabei ein Recht verletze, das ihnen, solange sie unbescholten, solange sie unverdächtig sind, zusteht, das ihnen ohne Weiteres zugestanden wird, sofern sie einfach wie Herrfrau Ixüpsilon aussehen, sie, deren Blicke ich auffange, festhalte und zuordne. In meinen Augen aber ist keiner von ihnen unverdächtig. Ist es doch meine Aufgabe, sie beim Betreten des Ganges, des kleinen, schmalen, zu beobachten, jede ihrer kleinsten Regungen wahrzunehmen, an ihnen abzulesen, ob sie etwas im Schilde führen, und im Verdachtsfall Alarm zu schlagen. Nun hat es die vielen Jahre, in denen ich meine langen Tage hier, vor dem Bildschirm, schon verbracht habe, keinen Verdachtsfall gegeben. Es hat noch keinen Verdachtsfall gegeben, und ich bin jeden weiteren Tag mehr davon überzeugt, dass es bald, sehr bald so weit sein wird. Dass in nächster Zukunft jener Tag kommen wird, an dem ich den roten Knopf, der schräg über meinem Kopf von der Wand herunterleuchtet, betätigen werde, dass der Sicherheitsmann, durch die Betätigung meines Knopfes aus seiner Kammer gerufen, kommen wird, dass das verdächtige Subjekt gestellt, zur Rede gestellt und hinausbefördert werden wird.
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