Jetzt wurde es wirklich spannend.
Roberta verschwand wie der Blitz, aber Arne ließ sich Zeit. Fast die ganze Klasse latschte hinter ihm her.
»Was wollen wir denn machen, Arne?« fragte Jorma.
»Tja, was wollen wir machen«, sagte Arne. »Was macht ihr denn sonst in diesem Kaff?«
Arne ist wirklich ein komischer Typ. Sogar Björn Axelsson lachte so, daß er in einen Schneehaufen fiel, und wir mußten ihn wieder hochziehen. Björn Axelsson ist sonst so einer, der nur über seine eigenen Witze lacht. Er findet sie jedenfalls selbst witzig.
»Wir gehen ins Freizeitheim und spielen Ball und so was«, sagte Janna.
»Oder wir gucken uns Schaufenster an«, sagte Linda.
»Ich geh in die Küche vom ›Goldenen Schwan‹ und hol mir Fleischklößchenteig«, sagte ich.
»Wenn die Eisbahn geöffnet ist, spielen die Jungs Eishockey«, sagte Ralf Jonsson.
Aber Arne schüttelte dauernd den Kopf. »Stinklangweilig.« Wir waren ziemlich still. In großen Abständen segelten dicke Schneeflocken durch die Luft, und ich schaffte es, drei mit dem Mund aufzufangen. Aber es hatte wohl niemand gesehen.
»Jetzt gehen wir zu meiner Tagesmama«, sagte Janna, nahm Linda am Arm und haute ab.
»Feiglinge!« rief Jorma ihnen hinterher.
Maria und Maria Magnusson gingen in eine andere Richtung weg, ohne ein Wort zu sagen.
»Spielt ihr denn nie in der Burg?« fragte Arne plötzlich.
»Burg, welche Burg?« fragten wir durcheinander und blieben stehen.
Arne zeigte stumm auf die Festung oben auf dem Hügel.
»Ach so, die Festung«, sagten wir. »Das ist doch nur eine alte Festung, keine Burg.«
Die Festung ist eine riesige Ruine, liegt hoch oben auf einem Hügel auf einer Halbinsel zwischen den beiden Flüssen, die um unsere Stadt herum fließen. Die Festung ist siebenhundert Jahre alt und riesengroß, aber wir sind so an sie gewöhnt, daß wir sie gar nicht mehr sehen. Nur die Touristen sehen sie und Leute, die in Stockholm gewesen sind. In der Festung gibt es drei kaputte Türme und einen, der noch fast heil ist. Also nichts Besonderes. Aber es ist ganz lustig, daß im Sommer alte Schafe auf den Wiesen um die Festung grasen. Aber das interessiert niemanden aus meiner Klasse.
»In Stockholm heißt das jedenfalls Burg«, sagte Arne.
»Dann gehen wir doch mal hin«, sagte Krille eifrig.
»Das könnt ihr ja machen«, sagte Arne, »wenn ihr Lust habt. Aber ich hab jetzt Hunger. Ich geh nach Hause.« Und dann drehte er sich um und rannte in die andere Richtung los, so schnell er konnte.
»Wie will er denn jetzt nach Hause kommen?« murmelte Jorma besorgt. »Der Schulbus ist doch weg.«
»Vielleicht fährt er als Anhalter«, sagte ich. »Das ist gefährlich. Einer, der mit meiner Mama zusammen arbeitet, ist mal als Anhalter gefahren, und der, der das Auto fuhr, hat ihm alles Geld weggenommen.«
»Wieviel?« fragte Ralf Jonsson. »Fünfzig Öre, was?«
»Nein, stell dir vor, es war viel mehr«, sagte ich. »Französisches Geld. Und als der Fahrer alles Geld genommen hat, hat er den, der mit meiner Mama zusammen arbeitet, durchs Schiebedach rausgeworfen. Als Anhalter fahren ist wirklich sehr gefährlich.«
Im selben Augenblick kam ein riesiger blauer Laster angefahren und bremste haargenau bei Arne. Der nahm seinen Rucksack und warf ihn auf die Ladefläche, riß die Tür auf und stieg ein. Und sofort fuhr der Laster weiter. Das ging so schnell, daß es niemand schaffte, die Autonummer aufzuschreiben.
»Er brauchte nicht mal den Daumen hochzuheben«, sagte Jorma und seufzte. »Er ist per Anhalter gefahren, ohne daß man es gemerkt hat.«
»Du bist ja doof«, sagte ich. »Das war ein Kidnapper. Sonst wär der doch nicht so schnell wieder losgefahren. Hat sich jemand die Autonummer gemerkt?«
Allgemeines Schweigen. Die in meiner Klasse sind offenbar Amateure, wenn es um Autonummern geht. Ich kenn einen Jungen, der ist Profi. Aber er wohnt leider in Norrland.
»Ach, jetzt gehen wir zum Freizeitheim und spielen was«, sagte Krille.
»Laß uns doch mal zur Burg gehen«, sagte Jorma.
»Burg, welche Burg?« brüllte Ralf Jonsson. »Hier gibt’s doch keine Burg!«
»In Stockholm heißt es Burg«, sagte Jorma unsicher.
Das klang so komisch, daß alle anfingen zu lachen. Einige fielen in den Schnee. Gerade da kam unsere Lehrerin mit kleinen schnellen Schritten in braunen hochhackigen Stiefeln vorbei.
»Na, ihr habt aber Spaß«, sagte sie freundlich. »Darf ich auch mitlachen?«
Da hörten wir sofort auf zu lachen, und jeder ging in eine andere Richtung davon.
Als wir uns heute in einer Reihe vor unserem Klassenzimmer aufstellten, fehlte Arne.
»Was hab ich gesagt, er ist gekidnappt worden«, sagte ich. »Das habt ihr nun davon, daß ihr euch keine Autonummern merken könnt.«
»Du hättest dir die Autonummer ja selber merken können, wenn es so wichtig ist«, sagte Janna.
»Genau«, sagte Linda.
»Aber du bist es wahrscheinlich gewöhnt, daß ein Junge mit Segelohren die Autonummern für dich aufschreibt«, sagte Janna kichernd.
»Einer aus Norrland«, sagte Linda und verdrehte die Augen.
Ich wußte genau, wen sie meinten, denn ich kenn einen Jungen, der sehr hübsche abstehende Ohren hat, und er ist aus Norrland, und als er mich in den Weihnachtsferien besucht hat, hat er ziemlich viele Autonummern in einem Buch aufgeschrieben, und das scheint manchen Leuten nicht zu passen.
Zum Glück kam Arne in dem Augenblick.
»Hallo, Arne«, schrie Krille. »Bist du gestern gekidnappt worden?«
»Klar«, sagte Arne und guckte komisch. Wahrscheinlich wußte er nicht, was kidnappen heißt. Aber dann kam unsere goldige Lehrerin, und erst beim Essen im Schulspeisesaal erzählte Arne, daß der blaue Laster seinem Papa gehört. Jorma war so beeindruckt, daß er Messer und Gabel fallen ließ. Es klapperte ordentlich, so daß sich unsere Lehrerin am Eßtisch der Lehrer aufrichtete und Jorma einen strengen Blick zuwarf.
»Hat er denn einen Führerschein für den Laster?« fragte Krille.
»Was denkst du denn«, sagte Arne, ohne von seinem Teller aufzuschauen.
Es wurde still.
»Übrigens hat er auch einen Führerschein für Traktor und Flugzeug«, fügte Arne hinzu und verdrückte den achten Fischkloß.
Ich kenn niemanden, der so gern das Schulessen ißt wie Arne. Seit er in unsere Klasse geht, essen die anderen auch viel mehr. Seitdem reicht das Essen kaum noch.
»Flugzeug!« sagte Krille. »Das ist ein Ding.«
»Dann hat wohl dein Papa das Flugzeug geflogen, als wir nach Torremolinos geflogen sind«, sagte Janna. »Er fliegt ziemlich wacklig, was?«
»Ich möchte gern Stewardess werden«, sagte Linda. »Wenn ich darf, nehm ich meine Katze mit.«
»Hauskatzen, wie doof«, sagte Arne. Er streckte die Gabel aus und klaute sich blitzschnell einen Fischkloß von Krilles Teller.
Linda wurde ganz rot vor Wut.
»Nur Wildkatzen sind toll«, sagte Arne. »In Stockholm wimmelt es auf den Hinterhöfen von roten Wildkatzen. Die leben von Mäusen und Papageien.« Er war schon an der Tür. »Wer kommt heute mit rauf zur Burg?« schrie er über die Schulter.
Mehrere riefen »Ich«, obwohl die meisten nach der Schule was anderes vorhatten und erst was essen mußten. Um vier Uhr wollten wir uns treffen.
»Wo willst du denn essen?« fragte Linda besorgt. Sie hatte schon wieder vergessen, daß Arne ihre Katze beleidigt hatte.
»Och«, sagte Arne, »es gibt ja Bratwurstbuden.«
In dem Augenblick klingelte es, und wir mußten zurück in die Klasse. Auf dem Flur sah ich Roberta Karlsson angeschlendert kommen. Leider erwischte sie mich doch noch, als ich gerade um die Ecke flitzen wollte.
»Paß auf, meine Jacke«, sagte ich.
»Warum bist du gestern nicht gekommen?« sagte Roberta zwischen den Zähnen. »Du hast es doch versprochen!«
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