Beispielsweise kann es irritierend sein, wenn jemand zwei Ziele gleichzeitig verfolgt, die völlig widersprüchlich sind, etwa den Vorsatz, auf sich selbst zu achten und sich nicht zu überfordern, und gleichzeitig den Wunsch, alles so schnell und so perfekt zu erledigen, wie möglich. Natürlich ist es potenziell problematisch, zwei Ziele gleichzeitig zu verfolgen, die in Konflikt miteinander stehen. Dennoch muss dies nicht unvernünftig sein, da es sich in beiden Fällen um Bestrebungen handelt, die einen jeweils sinnvollen Zweck verfolgen. Es ist auch nicht notwendig, diese Form von innerer Behinderung oder Verwirrung mit den Mitteln der Psychopathologie als Erscheinung eines Unvermögens zu beschreiben oder sich selbst dafür zu verurteilen. Vielmehr kann es ausgesprochen hilfreich sein, die Beweggründe für solche auf den ersten Blick widersprüchliche oder vielleicht sogar scheinbar schädliche Handlungen oder Handlungsimpulse zu erkennen.
Somit ist klar, dass eine gute psychologische Methode zur Klärung innerer Probleme eine Vielzahl von Einflussfaktoren berücksichtigen muss und dass eindimensionale Erklärungsmodelle an dieser Stelle nicht wirklich weiterhelfen. Es braucht also eine Methode zur Problemklärung, die die Komplexität der Problematik berücksichtigt und Perspektivenwechsel zulässt, ohne dabei zu vereinfachend zu sein. Kreative Lösungswege sind gefragt, die in Rechnung stellen, dass auch scheinbar maladaptive Lösungen eine sinnvolle Funktion, zumindest aber eine nachvollziehbare Intention, haben.
Hier kommt das Prinzip »Ego State« ins Spiel. Die Erkenntnis, dass es hilfreich ist, unterschiedliche Zustände der seelischen Funktionsstruktur zu unterscheiden, war eine bahnbrechende Entdeckung für die Entwicklung der Psychotherapie. Sigmund Freud lässt sich als Pionier der Ego-State-Therapie anführen, da er unterschiedliche »psychische Instanzen« im Sinne von unterschiedlichen Funktionszuständen der Persönlichkeit benannt hat (Ich – Es – Über-Ich). Der Psychoanalytiker Paul Federn hat verschiedene »Ich-Zustände« beschrieben und deren Funktionalität aufgezeigt und damit das Verständnis für intrapsychische Konflikte erweitert. Hellen und John Watkins haben die Arbeit mit Ego States zu einer Therapiemethode entwickelt, die in der Folge mehr und mehr Verbreitung erfahren hat.
Ego-State-Therapie basiert auf einer erkundenden sowie konsequent ressourcenorientierten therapeutischen Haltung. Dabei zielt die Problemanalyse darauf, Lösungen zu finden, ohne sich in der Analyse von Defiziten oder Problemen zu verstricken. Die Vielzahl innerer Positionen, Wahrnehmungen und Strebungen wird exploriert, um kreative und nachhaltige Lösungen zu finden. Individuelle Fähigkeiten, Stärken und Kenntnisse werden therapeutisch genutzt, beispielsweise indem bei bestimmten Problemen oder Fragestellungen das »Innere Team« konsultiert wird.
Das von Kai Fritzsche hier vorgelegte Buch stellt das therapeutische Potenzial der Arbeit mit inneren Seiten der Persönlichkeit in der Behandlung von Patientinnen und Patienten mit posttraumatischen Belastungsstörungen und komplexen Traumafolgestörungen in umfassender Weise systematisch und zugleich praxisorientiert vor. Dabei werden die theoretischen Voraussetzungen und therapeutischen Leitsätze auf eine sehr wohltuende Weise undogmatisch und therapieschulenübergreifend vermittelt sowie stets auf konkrete Behandlungsziele bezogen erklärt. Dem Leser wird auf eine leicht verständliche Weise nahegebracht, warum Ego-State-Therapie eine für die Behandlung von Patienten mit Traumafolgestörungen unverzichtbare Methode ist, die wirksam und passgenau eingesetzt werden kann und bei einer Vielzahl von Behandlungsaspekten ausgesprochen hilfreich ist.
Ich fühle mich durch die Lektüre sehr angeregt und bereichert und wünsche dem Buch viel Erfolg!
Prof. Dr. med. Martin Sack, im Oktober 2020
Zukunft ist zu Ende gebrachte Geschichte .
Daniela Dahn (2017)
Rückkehr von der Wache
Einen Steinwurf von der Kaserne entfernt
wächst Mais in den Rosengärten;
am Schluss torkeln wir todnüchtern
den Weg zur Eisenbahnlinie entlang .
Nur noch durch den Schmerz spürt er den Arm im Gips ,
nicht mehr durch fremde Berührung .
Und er merkt nicht die Hand, die eine Tasse
heißen Kaffee auf den Tisch stellt .
Denn die Nacht ist von Explosionen erleuchtet
und Nebelschleier liegt noch auf dem Brillenglas:
und ein Blatt im Hof schlägt
unter den Regentropfen wie ein Herz .
Asmir Kujović 1
1Asimir Kujović: Rückkehr von der Wache. Aus: Das versprochene Land . Aus dem Bosnischen übersetzt von Ana Bilić. Klagenfurt/Celovec: Wieser, 2005. Mit freundlicher Genehmigung des Verlags.
In meinem Buch Praxis der Ego-State-Therapie (Fritzsche 2018a) habe ich die Konzeption der Ego-State-Therapie und die Möglichkeiten ihrer Anwendung in der Praxis beschrieben. Seit dem Erscheinen der ersten Auflage 2013 habe ich diesbezüglich viele erfreuliche und bestärkende Rückmeldungen erhalten und mich über das große Interesse der Leserinnen und Leser sowie über deren vielfältigen Einsatz der Ego-State-Therapie in der Praxis gefreut. Dabei wurden auch die Wünsche nach einer traumatherapeutischen Vertiefung laut, da eine solche in dem Buch nicht enthalten war. Es brauchte einige Zeit, bis aus der Idee ein konkretes Projekt wurde, dessen Ergebnis nun in Ihren Händen liegt.
Das Buch soll zwei Aufgaben erfüllen. Zum einen möchte ich eine umfassende Konzeption der Behandlung von Traumafolgestörungen mit Ego-State-Therapie vorstellen und zum anderen konkrete Interventionen praxisnah erläutern, die aus dieser Konzeption abgeleitet sind. Es geht in diesem Buch also um die Fokussierung auf ein Störungsbild, das der Traumafolgestörungen. Dieses Störungsbild zeichnet sich durch eine sehr große Bandbreite aus. In Anbetracht des Ausmaßes dieser Bandbreite ist es anspruchsvoll, die Besonderheiten der verschiedenen Traumafolgestörungen und deren Behandlung in einer Publikation zu vereinen bzw. die Grundkonzeption auf die Heterogenität der Störungen zu beziehen. Dies stellte für mich jedoch ein wichtiges Anliegen und den Reiz des Projektes dar. Die vorgelegte Behandlungskonzeption lässt sich an die Verschiedenartigkeit der unterschiedlichen Traumafolgestörungen anpassen. Insofern werden nicht alle Behandlungsschritte in der gleichen Gewichtung und im gleichen Umfang zur Anwendung kommen, sondern für den jeweiligen Fall nach einer spezifischen Indikation modifiziert. Dabei ist es mir besonders wichtig, die Vielfalt der Ego-State-Therapie zu zeigen und diese in den Interventionen deutlich zu machen. Es gibt im Konzept der Ego-State-Therapie nicht »das eine Vorgehen«. Es zeichnet sich durch einen hohen Grad an Komplexität und Flexibilität aus. Für Lernende ist dieses Charakteristikum zuweilen mit Irritationen und Mühen verbunden. Es bietet jedoch sehr wichtige und konstruktive Handlungsspielräume, die den Besonderheiten der Behandlungsfälle gerecht werden. Die Konzeption soll sich an die Patientinnen und Patienten anpassen können und nicht umgekehrt. Die Praktikabilität der Konzeption wird besonders in seiner klinischen Anwendung deutlich. Es werden fünf verschiedene Interventionen vorgestellt und ausführlich erläutert. Diese Interventionen sind auf verschiedene Erlebensebenen, Wirkmechanismen und Verarbeitungswege bezogen. Sie reichen von der hypnotherapeutischen Arbeit über die Stühle-Arbeit bis hin zur körperfokussierten Arbeit. Die Interventionen lassen sich einzeln oder in Kombination miteinander anwenden, was die Nutzungsmöglichkeiten noch erweitert.
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