„Ich bin nicht …“
„Zum Beispiel“, fuhr Ms Dawson fort, als hätte er nichts gesagt. „Einige unserer Omegas leben in sehr, sehr schwierigen persönlichen Verhältnissen. Wir arbeiten mit dem North Chicago Omega Schutzgebiet zusammen, einem Obdachlosenheim. Per Definition sind sämtliche Omegas dort ohne den Schutz eines Rudels. Die meisten fliehen vor missbräuchlichen oder ausbeuterischen Beziehungen und würden einen Umzug nicht als Nachteil ansehen.
Beaus Miene verfinsterte sich allein bei dem Gedanken, dass eine solche Einrichtung gebraucht wurde. „Und Sie wollen sie aus einem sicheren Ort wie diesem holen und wieder zu einer Partnerschaft zwingen? Nach allem, was sie durchgemacht haben?“
„Die Omegas registrieren sich freiwillig bei uns, Mr. Jeffries, und wir vermitteln sie mit Sicherheit nicht an den nächstbesten Alpha. Diese Omegas brauchen einen Alpha, der freundlich und geduldig ist und dem sie vertrauen können, dass er keine Anforderungen stellt, mit denen sie sich nicht wohlfühlen. Einen Alpha, der bereit wäre, sie gehen zu lassen, wenn sie merken, dass sie etwas anderes als einen Gefährten wollen. Sodass alles, was sie durchgemacht haben, nicht das Ende sein muss, sondern der Beginn eines neuen Lebensabschnittes sein kann.“
Beaus Lippen öffneten sich, er lehnte sich zurück und dachte darüber nach. Ein Omega, der einen sicheren Ort brauchte, der ihn für den Abstand brauchte. Der froh wäre, einen Alpha zu haben, der nicht diese Intimitäten mit einem Fremden wollte, der keine Kinder wollte. Der einverstanden war, ihn nach einem oder drei Jahren wieder gehen zu lassen.
„Die befristete Vereinbarung könnte einem Omega, der ein ernstes Trauma durchlebt hat, Zeit geben, gesund zu werden und über seine Möglichkeiten nachzudenken. Vielleicht zurück auf die Schule zu gehen oder eine Ausbildung anzufangen und sich so darauf vorzubereiten, ein wirklich unabhängiges Leben zu beginnen.“
Beau lächelte leicht. „Sie wollen, dass ich ein Übergangswohnheim für einen Omega leite?“
Ms Dawson sah ihn wissend an. „Würden Sie lieber drei Jahre mit einem absolut netten Omega verbringen, der nichts von Ihnen braucht?“
Der Gedanke an jemanden, dem er helfen konnte – an jemanden, der das vorübergehende Zuhause brauchte, das er bieten konnte – stellte das ganze Problem auf den Kopf. Es war keine Verpflichtung, kein Schlupfloch. Es war eine Gelegenheit, seiner eigenen Art etwas zurückzugeben, obwohl er seine Karriere damit verbringen wollte, Menschen zu helfen.
„Ja“, sagte er. „Ja, Sie haben recht, das würde ich gerne tun.“
„Ausgezeichnet“, erwiderte Ms Dawson. „Ich habe da jemanden im Sinn – haben Sie eine Geschlechtspräferenz?“
Beau zuckte die Schultern, schüttelte den Kopf und ballte die Fäuste, um nicht nach dem Tablet zu greifen. „Ich stehe auf männliche Omegas, aber nicht unbedingt. Jeder Omega ist in Ordnung, wenn … wenn er Schlimmes erlebt hat, wie Sie sagten. Wenn ich helfen kann.“
Ms Dawson nickte und drehte das Tablet um. „Das ist Roland Lea. Er ist bereits seit ein paar Monaten in dem Schutzgebiet.“
Beau runzelte die Stirn. „Haben die dieses Foto gemacht, als er dort ankam?“
„Ich habe es selbst aufgenommen, gerade diese Woche. Wir möchten sichergehen, dass Sie genau das bekommen, was Sie sehen.“
Beau lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich sehe einen akut Wolfsbannsüchtigen, der bald eine tödliche Überdosis nehmen wird. Das wird in dem Schutzgebiet erlaubt?“
Ms Dawson runzelte die Stirn und wirkte zum ersten Mal, als hätte er sie auf dem falschen Fuß erwischt, sagte aber: „Nein. Rauschmittel sind nicht erlaubt. Und ich habe mich mit Mr. Lea getroffen. Er hatte ein Problem, bevor er in das Schutzgebiet kam, aber ich versichere Ihnen, dass er jetzt clean ist.“
„Er kann nicht …“ Beau beugte sich vor, spähte auf das Tablet und griff danach, ohne nachzudenken. Ms Dawson gab es ihm und Beau berührte den Screen, um das hochauflösende Bild zu vergrößern, damit er jedes Detail von Roland Leas Erscheinung genau betrachten konnte.
Er war eindeutig unterernährt, obwohl er sich seit Wochen, bevor dieses Bild aufgenommen worden war, im Schutzgebiet befand, was darauf hindeutete, dass etwas ganz und gar nicht stimmte. Es gab nicht viele Krankheiten, die einen solchen Effekt auf einen Werwolf hatten, und wenn er eine davon hätte, wäre er inzwischen gestorben oder hätte jemanden angesteckt, was sicherlich aufgefallen wäre.
Beau warf erneut einen Blick zu Ms Dawson, aber sie schien das Abbild von Gesundheit zu sein. „Sehen andere Omegas in dem Schutzgebiet auch so aus?“
Sie schüttelte langsam den Kopf. „Seine Sachbearbeiterin ist sich sicher, dass da irgendetwas verkehrt läuft, aber … er hat eine Menge durchgemacht und seine Gemütsverfassung ist nicht die beste. Sie dachte an … Vereinsamung oder eine zerrissene Partnerbindung.“
Beau schnaubte und senkte den Kopf. Vereinsamung. Genauso gut konnte man sagen, er starb an einem Übermaß an schwarzem Humor, wie es im frühen Mittelalter hieß. Nicht dass sie irgendwie nicht mehr im frühen Mittelalter lebten, wenn es um Werwolfmedizin ging, aber hier musste etwas Biologisches vorliegen.
Beau vergrößerte das Bild bei Roland Leas blutunterlaufenen Augen, die eher elfenbeinfarben als sauber weiß waren, dann bei seinem Haaransatz, halb rasiert, halb haarlos. Er scrollte zu der untersten Ecke des Fotos, das kaum mehr als sein scharfes Kinn zeigte. Als er weiter scrollte, brachte ihn das zu Leas Profil und er erhaschte einen Blick auf Unbekannte Anzahl ehemaliger Sexualpartner, ehe er rasch von der Information aufsah, die er nicht haben sollte.
„Gibt es eine Hebamme in dem Schutzgebiet?“
„Ja, aber Mr. Lea ist natürlich nicht schwanger und steht auch nicht kurz vor der Hitze, er hat …“
Beau massierte sich die Nasenwurzel, während sich in seinem Kopf die Gewissheit bildete, was mit Roland Lea los war. Es war offensichtlich, dass Ms Dawson nichts davon wusste. Wahrscheinlich wusste es niemand, was hieß, dass Beau die Geheimnisse dieses Omegas nicht einfach verraten konnte, vor allem nicht an die Leute, die kontrollierten, ob er einen sicheren Platz zum Leben hatte.
„Ich muss mit ihm reden. Heute. Ich nehme ihn mit, ich bin mit allem einverstanden – ich muss nur jetzt mit ihm reden, weil er in schrecklicher Gefahr ist.“
Roland saß draußen auf einer Bank, atmete den grünen Duft von Gras und wachsenden Blumen ein. Es war fast Sommer, und Sommer hatte nie so gerochen, bis er in die Stadt kam.
Er konnte etwas Bitteres in seinem Mund schmecken und Fieber in seine Knochen kriechen spüren, ein schlimmer werdender Schmerz in seinem Bauch. Er wusste nicht, was mit ihm geschah, aber er glaubte nicht, dass er lange genug leben würde, um viele Bewerber abzuweisen.
„Mr. Lea?“
Roland öffnete die Augen und sah Susan auf ihn zukommen. Er konnte sie riechen, was gut war, weil seine Sicht immer schlechter wurde, nicht mehr nur wenn er versuchte zu lesen. Das hatte er bisher niemandem erzählt. Er wollte nicht, dass die Hebammen nachstocherten und Fragen stellten oder dass irgendjemand wusste, was mit ihm passierte, solange er es noch verheimlichen konnte.
Susan lächelte, stellte er fest, als sie sich auf das Ende der Bank setzte. Aus einem Reflex heraus lächelte er zurück, hielt dabei jedoch den Mund geschlossen, um die Chancen zu reduzieren, dass sie an seinem Atem roch, wie krank er war.
„Ich habe wunderbare Neuigkeiten, Roland“, sagte Susan.
Roland konnte spüren, wie gern sie ihn bei diesen Worten berührt hätte, um die Freude zu teilen. Roland verbarg die Hände – die immer kalt waren, sogar in der Frühsommersonne – noch entschlossener unter seinen Armen.
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