„Werden Sie mich rauswerfen?“
Susan blinzelte ihn an. Sie war mindestens sechzig, obwohl es durch eine vernünftige Lebensweise und Werwolfgene schwer zu sagen war; sie redete nie über sich selbst, über ihr eigenes Leben, aber Rolands Vorstellung ließ sie als Großmutter aus einem schönen Vorort arbeiten und unter den gefallenen Omegas des Schutzgebiets Gutes tun.
Sie war jedoch immer noch eine Wölfin. Sie hatte immer noch Zähne. Sie zuckte nicht vor ihm zurück, und wenn es an der Zeit für ihn war zu gehen, hatte er keinen Zweifel, dass sie ihn zum Tor begleiten und ihn persönlich rauswerfen würde.
„Nein“, sagte sie nach einem Moment. „Das machen wir hier nicht. Aber ich glaube, wir müssen Ihre Optionen überdenken.“
Als ob er noch Optionen gehabt hätte. Aber wenn sie ihn nicht rauswerfen wollten, war das ein Anfang, und er schuldete es diesem Ort, alles zu tun, was nötig war.
„Okay“, sagte Roland und ließ den Türrahmen los. „Klar, überlegen wir noch einmal.“
Susan führte ihn vom Waschraum weg, nicht zurück in das Arbeitszimmer, das nach seiner Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit stinken musste, sondern in ein ruhiges, kleines Wohnzimmer. Sie schloss die Tür fest, aber die Fenster standen offen, man blickte auf den Innenhof der Schutzhütte. Ein paar kleine grüne Triebe ragten aus dem Boden, die ersten tapferen Blüten des Frühlings.
„Also“, sagte Susan. „Ich werde dir auf keinen Fall sagen, dass du die Highschool nicht beenden sollst, aber es scheint, als wäre das ein längerfristiges Projekt.“
Roland starrte auf seine Hände hinunter, klammerte sie umeinander, bis seine Knöchel weiß hervortraten. So war Susan immer, sie tat so, als hätte er eine Zukunft, als könnte er alles machen, was normale Leute taten, als wäre seine Vergangenheit tatsächlich vergangen.
„Ich denke, du brauchst mehr individuelle Unterstützung, als dir das Schutzgebiet geben kann“, fuhr sie fort. „Ich weiß, du sagtest, dass es kein Rudel und keine Familie gibt, mit der du Kontakt haben möchtest, und ich werde dich sicher nicht drängen, an dieser Stelle einem eigenen Rudel beizutreten.“
Dann schwieg sie. Roland dachte, dass das klang, als wollten sie ihn doch rauswerfen oder ihn in eine noch institutionellere Institution schicken, denn was zum Teufel sollte das sonst bedeuten?
Er hob den Kopf, um sie anzusehen. Susan hielt eine Broschüre in der Hand. Sogar er konnte die beiden verschlungenen Symbole auf dem Cover erkennen: Alpha und Omega.
Einen Moment lang starrte Roland den Umschlag an, dann sah er zu Susan auf, die einen sanften Ausdruck im Gesicht hatte. Er vergrub sein Gesicht in den Händen und begann wild und ein wenig schmerzerfüllt zu lachen. „Sie … was …“
Susan war so gelassen wie immer. „Das ist eine Agentur, die hilft, einzelne Alphas und Omegas in Kontakt zu bringen. Sie arbeiten manchmal mit uns zusammen, um geeignete Partner für Omegas zu finden. Du hast Eric bisher noch nicht getroffen, glaube ich, aber er ist einer unserer Freiwilligen und ein ehemaliger Assistenzarzt – er hat seinen Partner durch die Agentur gefunden. Sie würden nichts erzwingen, aber sie können dir helfen, einen Partner zu finden, der dich in jeder Hinsicht unterstützt.“
Roland zwang sich, aufzuhören zu lachen, bevor etwas anderes daraus wurde. Eine kurze Weile atmete er nur, hielt dabei sein Gesicht verborgen. Dann lehnte er sich auf seinem Stuhl zurück und wischte sich mit dem Ende seines Schals über das Gesicht. Anschließend riss er sich den Schal vom Hals und zog den Kragen seines Hemdes herunter, damit Susan die silbernen Verbrennungen wirklich sehen konnte, die immer noch seinen Hals mit hässlichen, geschwollenen Flecken überzogen, die an den Rändern Blasen warfen.
Ihre Augen weiteten sich leicht. „Roland! Das ist …“
„Sie heilen nicht“, sagte Roland, stopfte den Schal wieder an seinen Platz und wandte den Blick ab. „Ich war in der Klinik. Ich verwende die Salbe zwei Mal täglich, aber … sie heilen nicht ab. Und das … das ist noch nicht annähernd alles.“
Er knirschte mit den Zähnen, verjagte die Erinnerung an den Schmerz in seinem Bauch und zwischen seinen Beinen, an die starken Hände der Hebamme, an die spöttischen Bemerkungen seines Alphas. Wer will dich jetzt noch? Du bist nur für eine Sache gut.
„Vertrauen Sie mir, ich bin kein Material zum Verkuppeln. Kein Alpha wird mich wollen. Oder wenn doch, wollen sie mich nur für …“ Roland schüttelte den Kopf und starrte erneut aus dem Fenster.
„Ich stimme dir zu, es muss jemand ganz Spezielles sein“, sagte Susan. „Aber die Chancen stehen gut, dass der Alpha für Sie irgendwo da draußen sein kann, Mr Lea. Sich bei der Agentur zu registrieren, verpflichtet Sie zu gar nichts, abgesehen von Treffen mit angehenden Alphas. Wenn Sie sich bei keinem, der Ihnen vorgestellt wird, wohlfühlen, sagen Sie Nein und damit hat sich die Sache. Aber wenn Sie glauben, es wäre möglich, dass es jemand gäbe, bei dem Sie Ja sagen könnten, möchte ich wirklich, dass Sie es versuchen.“
Dann hätte er einen Plan, nicht wahr? Dann könnte er sagen, er hätte es versucht. Sie würden ihn hierbleiben lassen und er könnte weiter versuchen, gesund zu werden. Vielleicht konnte er sogar wieder lesen, wenn er mehr Zeit zur Genesung hatte, und dann könnte er seine Pläne überdenken.
Niemand würde ihn auswählen, und er war sich seiner Fähigkeit, Drecksäcke wie Martin, die ihn nur benutzen wollten, zu erkennen, ziemlich sicher, und dann konnte er immer noch Nein sagen. Vielleicht ließen sie ihn ein paarmal jemanden ablehnen, bevor sie entschieden, dass er es gar nicht versuchen wollte, und wie viele Alphas suchten tatsächlich nach jemandem wie ihm?
Roland seufzte und machte für Susan deutlich, dass er aufgab. „Okay, ja. Was muss ich machen, um mich zu registrieren?“
Der Tag der Bekanntgabe war, wie viele Gelegenheiten, die eigentlich freudig und aufregend sein sollten, hauptsächlich stressig. Beau hatte die E-Mail, dass er wahrhaftig einen Treffer hatte, bereits vor einigen Tagen erhalten, und damit war der Teil der Spannung vorbei, aber die restlichen zweiundsiebzig Stunden waren mit der Sorge, in welchem Programm er landen würde, angefüllt gewesen.
„Gratulation“, sagte der Dekan und grinste sein breites, sorgloses Menschenlächeln, als Beau den Umschlag auf der Bühne vor seinen Klassenkameraden entgegennahm. „Bei deinem Fachgebiet befürchtete ich bereits, dass du unseren perfekten Rekord bei der Vermittlung unserer Werwolfstudenten ruinierst, aber du hast es geschafft!“
Beau lächelte zurück, fühlte sich jedoch krank. Er schaffte es, sein Lächeln aufzubehalten und – den Umschlag in einer Hand – mit der freien Hand ein halbes Dutzend Hände zu schütteln. Er hätte zum Mikrofon zurückgehen können und wenn er eine vollkommen andere Person gewesen wäre, hätte er das Kuvert geöffnet und den Inhalt denjenigen seiner Klassenkameraden vorgelesen, die noch immer auf den Stühlen saßen und auf ihr eigenes Ergebnis warteten. Stattdessen verließ er die Bühne so schnell wie möglich und lief direkt aus dem Auditorium auf den Treffpunkt zu, den er und die anderen Werwolfschüler mit Dr. Pavlyuchenko vorbereitet hatten.
Lauren wartete an der Tür zum Treppenhaus, ein wenig rotäugig, aber lächelnd. Er hob eine Augenbraue, doch sie winkte ihn nur herein, wo er ein bisschen Privatsphäre hatte und Lauren für ihn Wache stand. Beau berührte mit dem Umschlag in schweigendem Dank sein Herz, duckte sich durch die Tür und setzte sich sofort auf die erste Stufe.
Seine Beine hätten ihn keinen Schritt weiter getragen.
Er riss den Umschlag auf, überflog rasch seinen Namen und den Namen seiner Medizinschule bei …
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