Die Aufnahme zwischen Bewerbern und Aufenthaltsprogrammen wurde national geregelt, jeder Medizinstudent im achten Semester fand am selben Tag heraus, ob man aufgenommen wurde, und dann, ein paar Tage später, wohin man gehen durfte. Wenn er nicht aufgenommen wurde, musste er kämpfen, um ein Programm zu finden, das ihn annahm.
Und wenn er einen Platz fand, würde es in Werwolfmedizin sein und nicht in Humanmedizin. Wenn er zwei oder drei Jahre in einem Programm verbrachte, das auf Lykanthropie spezialisiert war, konnte er seine Chancen, von der Ärztekammer für Humanmedizin angenommen zu werden, in die Tonne treten.
Also musste er einen Platz finden. Er musste einen Platz in einem der zwölf Programme finden, bei denen er sich beworben hatte, oder es war alles umsonst gewesen.
Es war nicht so, dass Rochester ihn auf jeden Fall annahm, wenn man bedachte, wie sie über Werwölfe dachten. Und wenn es auf seine zehnte Wahl ankam …
Beau biss die Zähne zusammen und tippte die Rochester Klinik ans Ende seiner Liste. Er klickte auf Senden, bevor er es sich ein zweites Mal überlegen konnte. Damit hatte er zehn Programme auf seiner Liste. An neun davon würde er glücklich sein. Er hatte noch das letzte Semester vor sich und konnte keine Zeit mehr damit verschwenden, darüber nachzudenken, wohin er passen könnte. Jetzt lag es nicht mehr in seinen Händen.
„Mr. Lea? Sie können weitermachen, wenn Sie wollen, aber ich muss den Timer ausschalten.“
Roland kniff die Augen zusammen und presste sich die Fingerknöchel gegen die Stirn, als könnte er damit das Hämmern seiner Kopfschmerzen zurückdrängen. Außerdem versteckte er sich damit ein wenig vor dem sanften, geduldigen Blick von Susan, seiner Fallbearbeiterin im North Chicago Omega Schutzgebiet.
Susan war ebenfalls ein Omega, und sie konnte natürlich damit umgehen, wenn ihm wirklich die Tränen kamen, aber wenn er sein Gesicht vor ihr verbarg, würde sie es nicht genau wissen. Vermutlich.
Er hörte sie ein paar behutsame Schritte näher zu seinem Ende des Tisches kommen, und benutzte seinen anderen Arm, um den Fragebogen abzudecken, auf den er – ohne eine einzige Antwort aufzuschreiben – gestarrt hatte, seit … er wusste nicht, wie lange. Lange genug, damit Susan es aufgegeben hatte, darauf zu warten, dass er irgendeinen Fortschritt in diesem Test im Zeitlimit machte.
„Nicht“, brachte Roland fertig zu sagen, seine Kehle fühlte sich selbst für das viel zu eng an. „Nicht hinsehen. Bitte.“
Susan blieb stehen, dann hörte er sie zurückgehen. „Ich wollte nicht auf Ihren Test sehen. Aber vielleicht wollen Sie sich Ihr Gesicht waschen, danach können wir über das hier reden. Darüber, wie es weitergehen soll.“
Roland nickte gegen seine Faust und klammerte sich sofort an die in ihrem Vorschlag angebotene Flucht. Er griff nach seinem Testheft, als er aufstand, seine Schultern hoben sich, während er sich abwandte, ohne in Susans Richtung zu sehen. Er hastete aus dem kleinen Besprechungsraum zum nächstgelegenen Waschraum, schloss sich ein und presste sein brennendes Gesicht gegen die Metalltür.
Er wusste nicht, was seinen Körper zum Zittern brachte und ihn sich überall heiß und schwach fühlen ließ, sogar jenseits der Scham und Wut über sein neuestes, offensichtlichstes Versagen. Schon seit Wochen hatte er sich so gefühlt, noch ehe er in das Schutzgebiet gekommen war. Es fühlte sich ein wenig wie Hitze an – dieses unangenehme, quälende Fieber, aber schlimmer, hässlich und schmerzhaft.
Und er kam mit Sicherheit nicht in die Hitze. Die Beruhigungsmittel, die er in seinem Schließfach versteckt hielt, schützten ihn davor. Er nahm sie zuverlässig jeden Tag und hütete die Flasche heftiger als alle anderen seiner wenigen Besitztümer.
Er würde nicht mehr so hilflos sein, so ohne eigenen Sinn. Niemals. Niemand würde ihn jemals wieder so benutzen.
Das war die Entscheidung, die er getroffen hatte, als er endlich genug Verstand aufgebracht hatte, um zu erkennen, dass er sich von Martin trennen musste, egal ob er auf Besseres hoffen konnte oder nicht. Dies war das Einzige, dessen er sich während seines Kampfes ums Überleben sicher war, bevor er in das Schutzgebiet gekommen war. Er würde nichts davon noch einmal machen. Aber er musste etwas tun.
Ohne einen beschissenen Alpha-Freund, geschweige denn einen richtigen Kumpel oder ein Rudel, musste Roland einen Weg finden, sich selbst zu helfen. Wenn er bei den Beruhigungsmitteln blieb, würde ihm die Hitze bei der Arbeitssuche nicht in die Quere kommen. Er könnte sogar wieder unter Menschen gehen. Er könnte ein Leben haben, oder etwas, das dem nahekam. Vielleicht würde er kalt und einsam sein, aber er könnte auf eigenen Beinen stehen.
Alles, was er tun musste, war einen Job zu finden, obwohl er die Highschool nie beendet hatte, nie einen richtigen Job hatte und …
Roland öffnete die Augen und stieß sich mit beiden Händen von der Tür ab, um den Fragebogen auf der Metalloberfläche auszubreiten. Er starrte grimmig auf die Seite, auf der er sich befunden hatte, als Susan die Stille im Arbeitszimmer gestört hatte, aber hier war es nicht anders, obwohl er allein war. Die Wörter verwischten zu unleserlichen Flecken, als er sie ansah, und wenn er eines entschlüsselte, konnte er es nicht in einen Satz einordnen. Bis er das nächste Wort durchgearbeitet hatte, hatte er das erste vergessen.
Er war gebrochen.
Irgendwann in den vergangenen acht Jahren, als er nicht aufgepasst hatte – und der Mund wusste, dass er hart daran gearbeitet hatte, nicht aufzupassen – hatte er sogar die Fähigkeit zu lesen verloren. Die Fähigkeit, richtig zu denken. Er hatte kein bisschen Wolfsbann zu sich genommen, seit er in das Schutzgebiet gekommen war, wo er einen sicheren Platz zum Schlafen und genug Essen hatte, aber die zitternde Schwäche hatte nicht nachgelassen.
Roland wandte sich von der Tür ab und stolperte zum Waschbecken, um sich Wasser ins Gesicht zu spritzen. Er betrachtete sich im Spiegel und versuchte, nicht vor dem Anblick zurückzuschrecken. Seine blassgrünen Augen starrten ihn an, die Farbe sah neben dem blutunterlaufenen Weiß seiner Augen grell aus. Er war hager und blass. In einem der Asyle, in denen er übernachtet hatte, hatte er sich die Haare rasiert, ehe er das Schutzgebiet fand, weil sie in Büscheln ausgefallen waren. Sein Kopf zeigte ein paar blasser Stoppeln auf der nackten Haut, sogar noch bleicher als sein Gesicht. Die klaren, nicht verheilten silbernen Verbrennungen ragten aus dem Kragen seines Hemdes. Roland richtete den Schal, den er trotz der falschen Jahreszeit trug, um sie zu verstecken, und wischte sich mit einem Ende das feuchte Gesicht ab.
So stellte ihn niemand ein und er war sowieso für nichts gut. Er konnte nicht zur Schule zurück und war nicht in der Lage, die schwere Arbeit zu verrichten, die viele Alphas und Betas mit Werwolfstärke und Heilung verrichteten. Das Schutzgebiet war berühmt dafür, dass alle Omegas, die hier lebten, einen Plan, ein Ziel hatten. Roland hatte Susan gesagt, dass seines sei, die Ausbildung zu machen, die er verpasst hatte, als er mit sechzehn Jahren mit einem älteren Alpha davongelaufen war, der versprach, sich gut um ihn zu kümmern.
Wenn er keinen Plan hatte, würden sie ihn rauswerfen?
Würde er zu den menschlichen Obdachlosenunterkünften zurückkehren müssen? Zurück zum Betteln an Straßenecken, frierend und hungrig in Hauseingängen schlafen, wenn ihn das Mitleid menschlicher Fremder nicht ernährt hatte?
Roland kniff die Augen zusammen. „Fuck. Fuck.“
Es klopfte leise an der Tür. „Mr Lea?“
Susan. Natürlich. Susan war nett und geduldig und unerbittlich. Sie würde nicht zulassen, dass er sich für immer in diesem Waschraum versteckte.
Roland schob den Fragebogen in den Mülleimer, vergrub ihn tief unter feuchten Papiertüchern und benutzten Taschentüchern. Er wusch sich die Hände, trocknete sie ab und öffnete die Tür.
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