Maj Bylock
Die Hexentochter
oder:
Ylvas Buch
Aus dem Schwedischen
von Birgitta Kicherer
Saga
Anneli beugte sich über die Quelle, um Wasser zu schöpfen. Doch ihr Eimer wurde nicht gefüllt.
Sie hörte jemanden kommen!
Rasch glitt sie hinter einen Felsen unter die große Wettertanne, deren dichte Zweige bis auf die Erde herabhingen. Hier war sie gut versteckt. Wenn sie sich still verhielt, konnte niemand ahnen, wo sie sich befand. Wenn bloß keine Hunde dabei waren! Hunde brauchten nur ihrer Nase zu folgen, um ihre Beute aufzuspüren. Ein Hund würde sie sofort aufstöbern.
Anneli hielt den Atem an und lauschte, aber das Herz hämmerte ihr so laut in der Brust, daß es die schweren Schritte auf dem Pfad fast übertönte.
Wer mochte das sein, der da kam? Annelie wagte es nicht, die Zweige der Tanne beiseite zu biegen und hinauszuspähen. Sie war fest davon überzeugt, daß man gekommen war, um sie zu holen.
Die Leute hielten sie ja für eine Hexe. Wenn sie Anneli je fänden, würden sie sie ins Dorf runterschleppen. Und dort wartete der Henker mit seinem Schwert. Und danach der Scheiterhaufen, auf dem ihr Körper verbrannt werden würde.
Anneli wimmerte leise und rollte sich auf dem Moos unter der Tanne zusammen. Das Entsetzen und die Erinnerung an alles, was geschehen war, drohten ihr die Brust zu sprengen. Sie sah die alte Ylva vor sich, auf dem Richtblock ausgestreckt. Und über Ylva schwang der Henker sein Schwert, hoch hinauf gegen den grünblauen Himmel. Hexen durften nicht am Leben bleiben. Hexen mußten sterben ...
Die Schritte auf dem Pfad waren nicht mehr zu hören. Hundegebell hatte Anneli auch keines wahrgenommen. Die Gefahr war vorüber. Aber für wie lange? Nie mehr würde Anneli sich sicher fühlen. Sie blieb mit geschlossenen Augen auf dem Boden liegen und dachte daran, wie alles angefangen hatte.
Damals war sie zehn Jahre alt gewesen und hatte versprochen, ihre kleinen Geschwister zu hüten, während die Eltern auf dem Acker arbeiteten. Tapio, der Jüngste, schlief friedlich in seiner Wiege, und die kleine Schwester Tuija spielte neben der Treppe mit ein paar Tannenzapfen.
Anneli hatte Hunger bekommen. Das Essen in der Speisekammer war für den Kleinen bestimmt. Er war Vaters Liebling, schließlich war er ja ein Junge. Anneli hatte Magenschmerzen vor Hunger. Sie schlich sich zum Erdbeerplätzchen runter und begann, für sich und die kleine Schwester Beeren zu pflücken.
Da stach ihr plötzlich ein scharfer Geruch in die Nase. Rauch! Das ganze Haus brannte! Ein Funken vom Herdfeuer war wohl in Mutters Korb mit der frisch gekardeten Wolle gesprungen.
Alles loderte lichterloh!
Anneli war wie betäubt davongerannt, geradewegs in den Wald hinein. Und als sie endlich wieder zu sich gekommen war, hatte sie in Ylvas Häuschen gelegen. Sie konnte sich an nichts mehr erinnern. Ja, sogar ihren eigenen Namen hatte sie vergessen.
Viele Jahre lang hatte Anneli als „Das Mädchen ohne Namen“ bei Ylva gelebt. Die Leute hatten allmählich geglaubt, sie sei Ylvas Tochter. Ylva war eine heilkundige alte Frau, zu der viele Kranke kamen, um geheilt zu werden.
Anneli half Ylva bei der Arbeit, beobachtete und lernte viel. Ylva lehrte sie sogar, in ihrem geheimen Buch über Krankheiten und Medizinen zu lesen.
Manchmal waren Leute gekommen, die Ylva baten, einem Nachbarn Krankheit oder Unglück anzuhexen. Doch da hatte Ylva jedesmal nein gesagt. Das hatte zur Folge gehabt, daß sie Feinde bekam, obwohl sie so vielen Menschen geholfen hatte. Ylvas Feinde verbreiteten das Gerücht, daß Ylva eine Hexe sei. Ylva hatte eine Hexenprobe bestehen müssen und war danach zum Tode verurteilt worden.
Anneli hatte fliehen müssen, denn die Leute hielten sie für die Tochter der Hexe und glaubten, sie sei ebenfalls eine Hexe.
Da war ein kleiner Junge gekommen, der Tapio hieß. Er hatte gesagt, er könne ihr ein Versteck zeigen. Tapio hatte sie über Berge und Moore geführt, durch tiefe, dunkle Wälder.
Als sie endlich angelangt waren, erkannte Anneli das Erdbeerplätzchen von damals wieder. Sie begann, sich zu erinnern. Sie war doch Anneli, die ihre Geschwister hatte hüten sollen! Und Tapio war ihr kleiner Bruder. Er war gerettet worden! Die Stricke, an denen die Wiege aufgehängt gewesen war, waren durchgebrannt, und der Junge war aus der Wiege gerollt.
Anneli schlug die Augen auf und blickte hinauf in die Tannenzweige. Sie lauschte. Aber draußen war es fast still. Außer dem Summen der Mücken über der Quelle und dem Meckern der Ziegen hinten beim Haus war nichts zu hören.
Vorsichtig schlich sie aus ihrem Versteck und hinunter zur Quelle. Sie schauderte, als sie daran dachte, wie tief die Quelle war. So tief, daß sie den Namen Bodenlose Lache erhalten hatte.
Vater hatte erzählt, sie hätten geglaubt, daß Anneli während des Brandes hier ertrunken sei. Sie hatten angenommen, daß sie zur Bodenlosen Lache gerannt sei, um dort Wasser zu holen. Die ganzen langen Jahre, die Anneli bei Ylva gelebt hatte, hatten sie hier zu Hause Anneli für tot gehalten!
Vater war überglücklich gewesen, als Anneli zurückgekommen war. Und Tapio ... Er hatte behauptet, Anneli sehe Mutter ähnlich, Mutter, die während Annelis Abwesenheit gestorben war.
Anneli beugte sich vor, um den Wassereimer zu füllen. Plötzlich wand sich ihr etwas Kaltes, Schleimiges um den Hals! Sie schrie gellend auf, doch da lachte jemand hinter ihrem Rücken und hielt ihr einen grünglänzenden Fisch vor die Nase. Tapio!
„Ich hab Glück gehabt beim Angeln! Heute abend braten wir den Hecht in der Glut.“
Plötzlich vergaß Anneli den Hecht.
„Wer war das vorhin auf dem Pfad?“ fragte sie ängstlich.
„Ich“, antwortete er. „Ich habe die Ziegen auf die Weide gelassen.“
Annelis Wangen brannten. Sie durfte nicht mehr so furchtsam sein. Wer käme schon auf den Gedanken, sie hier zu suchen? Das Tal, wo Ylva gelebt hatte, lag doch weit entfernt von hier.
Die Sonne hatte sich hinterm Wald versteckt und war schlafen gegangen. Jetzt hing der Mond groß und rot hinter den Wolken und hielt Wache.
Anneli hatte einen schweren, anstrengenden Tag hinter sich. Es gab mindestens tausend Dinge zu erledigen. Vater mit seinem verletzten Bein konnte selbst nicht viel tun, verlangte aber, daß vieles getan wurde. Und Tapio war noch nicht erwachsen. Er rackerte sich ab, so gut er konnte, aber seine Arme und Beine waren noch kurz.
Anneli gab sich große Mühe, Vater alles recht zu machen. Sie schrubbte den Boden, und sie spülte das Geschirr. Sie kochte Grütze und Mehlsuppe. Die Ziegen brauchten Futter, und die Kuh mußte gemolken werden. Obwohl Anneli müde war, lag sie noch wach. Die Nacht gehörte ihr. So viele Gedanken gingen ihr durch den Kopf. Tapio schlief tief und fest, und Vater schnarchte auf der Bank neben dem warmen Herd.
Alt und steif war Vater geworden, sein Bart war grau wie die Flechten auf den Zweigen der alten Tanne hinterm Haus. Anneli erinnerte sich daran, wie Vater ausgesehen hatte, als sie klein war. Damals war er aufrecht und stark gewesen, und sein Bart hatte rot geleuchtet wie der Mond.
Schon damals war Vater sehr streng gewesen, nur gegen Tapio nicht, denn Tapio war sein ein und alles. Aber Anneli und ihre kleine Schwester Tuija mußten gehorchen und stets den Mund halten.
Jetzt seufzte und jammerte der Vater im Schlaf. Ob er Mutter wohl vermißte? Oder vielleicht war es auch sein Bein, das schmerzte?
Anneli dachte an eine Medizin, die ihm helfen könnte. Vielen Kranken, die bei Ylva Heilung gesucht hatten, hatte diese Medizin bereits geholfen. Aber wie waren die Zutaten gewesen? Mußte man Bilsenkrautsamen oder Basilikum hineinrühren?
Anneli beschloß, in dem schwarzen Buch nachzuschauen. Leise schlich sie aus dem Bett. Das Bündel mit dem Buch darin hatte sie sorgfältig hinter einem Balken auf dem Dachboden versteckt. Das Buch war Annelis Geheimnis. Nicht einmal Tapio wußte, was sie in aller Eile ins Bündel gepackt hatte, bevor sie Ylvas Häuschen verlassen hatten. In dem Bündel befanden sich Dosen mit Kräutern und Tinkturen und Beutel voller Heilpflanzensamen.
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