Anneli blieb am Strand stehen und verfolgte seine Fahrt mit ängstlichen Blicken. Warum rief sie ihm nicht zu, daß er wenden solle? Sie hätte seinen Platz einnehmen und sich selbst auf den Weg machen sollen.
Aber nein! Das wagte sie nicht. Niemand durfte erfahren, daß sie hier oben war. Nicht einmal jetzt.
Als Tapio hinter einer Landzunge verschwunden war, kehrte sie zum Haus zurück. Es gab dort viel zu tun.
Es dauerte so lange.
Anneli stand auf dem Felsen am Ufer und blickte auf den See hinaus. Wenn ... Sie hätten schon längst hier sein sollen!
Endlich!
Jetzt sah sie ein Boot hinter der Landzunge hervorgleiten. Rasch eilte sie zum Haus hinauf und kroch unter die dichte Tanne, ohne die Männer zu sehen, die am Felsen anlegten und zum Haus hinaufwanderten.
Die Männer trugen einen Sarg zwischen sich. Tapio schlich hinter ihnen her, klein, müde und traurig. Auf dem Rückweg über den See hatte er im Ruderboot sitzen dürfen. Den Sarg hatten die Männer auf den ausgehöhlten Baumstamm gebunden und ins Schlepptau genommen.
Tapio schaute sich verstohlen und sehnsüchtig nach Anneli um. Doch sie war nirgends zu sehen.
Das Haus war aufgeräumt. Im Herd brannte Feuer. Im Topf köchelte die Mehlsuppe, und auf dem Tisch warteten vier Schüsseln.
Die Männer sahen sich erstaunt um.
„Wer hat dies alles gemacht?“
Aber Tapio schwieg. Das war sein Geheimnis.
Unsicher löffelten sie die Mehlsuppe in sich hinein, um satt zu sein, bevor sie die Wanderung zur Kirche antraten. Bestimmt steckte etwas hinter dem Gerücht, daß es hier oben spukte. Der Nachbar, der vor kurzem hier gewesen war und den Hof hatte kaufen wollen, war besonders schweigsam.
Im Morgengrauen brachen sie auf. Tapio ging als letzter. Er, der sonst immer rannte und hüpfte, bewegte sich langsam und erwachsen wie die anderen.
Ab und zu hörte er einen Zweig im Gestrüpp knacken. Ab und zu sah er einen Schatten über eine Felswand huschen. Wenn die anderen überhaupt etwas bemerkten, mußten sie glauben, irgendein Tier bewege sich durchs Unterholz. Tapio jedoch wußte, daß Anneli sie begleitete, obwohl sie sich die ganze Zeit sorgfältig verborgen hielt.
Anneli mußte daran denken, wie sie das letztemal diesen Weg gegangen war. Damals war Winter gewesen, und Vater und sie hatten den neugeborenen Tapio auf einem Schlitten zur Taufe gebracht.
Auf dem Heimweg waren sie von einem Schneesturm überrascht worden, und Vater hatte nicht mehr weitergewußt. Sie hatten übernachten müssen. Jetzt sah sie es – dahinten hatten sie geschlafen! Dort bildeten die schiefen Felsblöcke ein Dach. Unter dem Dach war weiches, grünes Moos, obwohl es mitten im Winter gewesen war.
Wenn Vater jetzt am Leben gewesen wäre, hätte er noch viel mehr über jene Nacht erzählen können. Die Felsblöcke hatten den Eingang zum Großen Saal des Bergvolkes verborgen. Die Angehörigen des Bergvolkes schlichen in der Dunkelheit ins Freie und versuchten, Kinder zu entführen. Vor blankem Stahl fürchteten sie sich jedoch, und das hatte Vater gewußt. Daher hatte er sein Messer unter dem Jungen in den Schlitten gesteckt.
Damals, dachte Anneli, kam mir der Weg zur Kirche sehr lang vor.
Auch heute war der Weg lang. Und der Sarg war schwer. Die Männer mußten sich oft ausruhen. Sie hatten eine Flasche Branntwein dabei, die sie jedesmal kreisen ließen, wenn sie sich zum Ausruhen hinsetzten.
Sie sprachen nicht viel. Einen Toten zu Grabe zu tragen, war sowohl für den Körper als auch für die Seele eine schwere Aufgabe, auf die sie gern verzichtet hätten. Aber alle wußten, daß auch sie selbst einmal dorthin getragen werden mußten.
Je weiter talabwärts sie kamen, desto gerader und breiter wurde der Pfad. Doch der Branntwein machte den Schritt der Männer immer unsicherer, so daß Tapio schließlich vor ihnen herlaufen mußte, um sie vor Steinen und groben Wurzeln zu warnen.
Endlich sahen sie das Tal. Die lange Wanderung näherte sich ihrem Ende. Dort unten tauchte die Kirche auf. Der hohe weiße Turm erhob sich über die Birken, die bereits gelb zu werden begannen. Rings um die Kirche schliefen die Toten ihren ewigen Schlaf unter grauen Kreuzen und Steinen.
Ewig?
Die Männer dachten unruhig an die Mehlsuppe, die sie heute morgen gegessen hatten. Wer hatte die gekocht? Wer hatte das Haus aufgeräumt? Vielleicht war der letzte Schlaf doch nicht so ewig, wie sie glaubten?
„Wir müssen den Totengräber bitten, daß er einen besonders schweren Stein aufs Grab legt“, flüsterten sie einander zu.
Das würde den Toten daran hindern, aus dem Grab zu kommen und zu spuken.
Die Beerdigung wurde kurz. Dies war keine prächtige Beerdigung mit anschließendem tagelangem Fest. Dies war ein Armeleutebegräbnis, wie meistens hier oben in den Bergwäldern.
Der Pfarrer war an diese Art von Beerdigung gewöhnt. Während er las und sang, blickte er auf die kleine Schar, die um das Grab stand. Drei Männer. Sie standen mit gesenkten Köpfen da und hielten ihre Mützen in den Händen. Ein kleiner Junge. Er weinte nicht, war blaß und still.
Und dennoch war irgend etwas Ungewöhnliches an dem Jungen. Immer wieder starrte er zu der Friedhofsmauer hinter dem Pfarrer. Was mochte er dort wohl sehen?
Es half nichts, der Pfarrer mußte nachschauen. Mitten im Segen drehte er sich um. Ein fremdes Mädchengesicht starrte zwischen den Birken hervor.
Anneli sah seinen Blick. Und in ihrer Angst bildete sie sich ein, er sei derselbe Pfarrer, der Ylva verurteilt hatte. Jetzt hatte er sie wiedererkannt! Er hielt sie für die Tochter der Hexe! Gleich würden sie hinter ihr her sein!
Sie mußte fort. Aber wohin? Nach Hause konnte sie nicht, dort würden sie bestimmt als erstes nach ihr suchen.
Als Tapio am Abend heimkam, war das Haus kalt und dunkel. Er hatte geglaubt, daß Anneli dort auf ihn warten würde ...
Enttäuscht und erschöpft von Kummer und Müdigkeit kroch er unter die Schaffelldecke.
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