Bernie konnte noch mehr quatschen als ich und ich lauschte seinem Redeschwall. Dabei betrachtete ich die kleinen Figürchen und den anderen Krimskrams, der an einer Schnur an dem Spiegel hing, mit dem Bernie den hinteren Teil des Busses im Auge haben konnte. Einiges davon stammte aus Überraschungseiern, aber das meiste musste er aus einer anderen, sehr viel geheimnisvolleren Quelle haben. Zum Beispiel die kleine Flöte, die aussah, als wäre sie aus einem Knochen geschnitzt. Oder der gelbe Totenkopf darunter. Ein gelber Totenkopf mit rosafarbenen Haaren, die steil zu Berge standen, und mit riesigen Kulleraugen, die in allen Regenbogenfarben schimmerten.
»In den nächsten Tagen wird es noch heißer werden«, erzählte Bernie. »Und dann soll es Gewitter geben und vielleicht sogar einen Wirbelsturm.«
»Super«, sagte ich. Denn im Gegensatz zu Tom war ich gern mittendrin, statt nur dabei.
Dann hielt Bernie bei der Bushaltestelle am alten Torhaus und ich stieg aus. Ich winkte zum Abschied.
Das alte Torhaus hieß so, weil es hier früher einmal ein großes Eingangstor und eine Zugbrücke gegeben hatte, aber wie alles auf unserem Grundstück waren Tor und Brücke alt und verfallen.
Also genau richtig.
Das sahen die Fahrer der Autos, die in unserem Schlossgraben gelandet waren, natürlich anders. Und weil solche Autofahrer mehr zu sagen hatten als fast elfjährige Mädchen wie ich, hatte mein Vater das Tor abgerissen und die Brücke durch einen Betonklotz ersetzt.
Nur das Torhaus moderte noch in stiller Würde vor sich hin. Weil sich dort drinnen ein alter Trafo vom Elektrizitätswerk befand, war es dem Abriss entgangen.
Im Park traf ich Poldi, unseren Hund. Er hatte versucht, Kaninchen zu jagen, aber natürlich keinen Erfolg gehabt. Poldi war schon ziemlich alt und Kaninchen waren viel zu schnell für ihn. Ich pflückte ein paar kleine grüne Birnen und warf sie durch die Luft. Kleine grüne Birnen waren viel leichter zu fangen als Kaninchen. Poldi sprang wild umher und bellte jedes Mal glücklich, wenn er eine Birne erwischte.
Dann fiel uns beiden das Mittagessen ein und wir liefen um die große verwilderte Haselnusshecke auf unser Schloss zu. Mit dem sommerlichen Park drum herum und dem blauen Himmel darüber sah der alte Kasten noch hässlicher aus als sonst und erinnerte mehr an eine heruntergekommene Fabrik als an ein Schloss. Das hieß, dass die schiefen Türme, die bröckelige Außentreppe und das graue Mauerwerk ganz besonders auffielen, weil alles andere so hübsch und romantisch wirkte.
Das Schloss hieß übrigens Moorwood Castle und es war uralt. In Butlers Burgen- und Schlösser-Lexikon hatte ich einmal gelesen, dass es zu den zehn hässlichsten Bauwerken Großbritanniens gehört, aber das ist natürlich Quatsch. Moorwood Castle gehört nicht zu den zehn hässlichsten Bauwerken Großbritanniens, es ist das hässlichste. Mit Abstand. Und gerade deswegen ungeheuer liebenswert. Wenn wir in der Schule einen Ort malen sollten, an dem wir besonders glücklich waren, dann malte ich immer unser Schloss. Auch wenn meine Eltern meinten, dass es kurz davor war zusammenzukrachen.
Poldi und ich wetzten am Hauptportal vorbei, das mit Brettern vernagelt war. Auch die Fenster links und rechts vom Portal waren verriegelt und verrammelt. Das hatte natürlich Papa gemacht. Papa war der Earl of Moorwood und wie viele englische Landadlige war er bettelarm. Deswegen wohnten wir auch nicht direkt im Schloss, sondern in einem Anbau, in dem früher einmal die Kutschen und die Knechte untergebracht worden waren. Natürlich gab es schon lange keine Kutschen und erst recht keine Knechte mehr bei uns. Wir machten alles selbst und zum Herumkutschieren hatten wir Opas alten Landrover und Mamas neuen Mini. Mama war Zahnärztin und hatte eine Praxis im Städtchen Moorwood, ganz in der Nähe vom Krimskramsund Geschenkartikelladen von Toms Mutter.
Ich atmete tief ein. Es roch nach Sommer, nach Pferden und nach Tante Fridas Schweinebraten mit Apfelsoße. Das war mein Leibgericht.
Sagte ich bereits, dass es ein wunderbarer Tag hätte sein können?
Schweinebraten mit Apfelsoße! Und mein Geburtstag stand vor der Tür! Aber leider auch mein Bruder Tristan.
Also, er stand wirklich vor der Tür, der Küchentür nämlich. Das erste nicht so schöne Ereignis an diesem bislang perfekten Tag.
»Was machst du denn hier?«, fragte Tristan.
»Ich wohne hier«, sagte ich.
»Oh Mann«, knurrte er. »Was du jetzt schon hier machst.«
»Feststellen, dass du mal wieder vom Pferd geflogen bist«, sagte ich.
»Bin ich nicht«, log Tristan.
Ich hätte ihn darauf hinweisen können, dass die Quarz-Sandspäne aus der Reithalle, mit denen seine Hose, sein Hemd und sein Reithelm paniert waren, eine andere Geschichte erzählten, aber ich tat es nicht und entgegnete stattdessen: »Schule war früher aus. Hab schon Bescheid gesagt. Deswegen gibt’s jetzt Schweinebraten mit Apfelsoße. Hat Tante Frida extra für mich gemacht.«
»Igitt«, sagte Tristan, der Apfelsoße nicht mochte.
Und genau das war das Problem. Wenn etwas auf den Tisch kam, was er nicht gern aß, wurde mein großer Bruder zum schlimmsten Miesmacher der Welt.
Zum Glück bimmelte in diesem Moment Tristans Handy. Bestimmt Onkel Bob, der Tristan zurück in den Stall beorderte. Der gehörte übrigens auch zu unserem Schloss, also der Stall. Papa betrieb zusammen mit Onkel Bob eine Reitschule und eine Pferdepension.
Ich hörte, wie Onkel Bobs laute Stimme aus dem Gerät Befehle erteilte. Der Hengst sollte beschlagen werden, und Tristan sollte helfen, das wilde Tier festzuhalten. Außerdem mussten mindestens drei der Pensionspferde auf die Weide hinter dem Stall gebracht werden und drei andere Pferde wieder von der Weide herunter, weil die sich nicht gut miteinander vertrugen.
Tristan wollte nicht und fing an zu diskutieren, aber gegen Onkel Bob hatte er keine Chance. Wenn man es genau betrachtete, war Tristan eigentlich so etwas wie der Knecht von Onkel Bob. Allerdings war das jetzt nicht mein Problem.
Ich huschte an meinem hilflosen Bruder vorbei in die Küche. Tante Frida empfing mich mit einer ihrer üblichen warmherzigen Umarmungen und wie immer schnupperte ich dabei an ihrer Bluse. Tante Frida duftete nämlich geheimnisvoll. Obwohl sie viel in der Küche stand, roch sie nie danach, keine Ahnung, wie sie das machte. Sie war die sehr viel jüngere Schwester von Opa und hatte eine Zeit lang in Ingolstadt gelebt, einer Stadt im Süden von Deutschland, wo es noch echte Hexen gab – jedenfalls versicherte das Tante Frida. Und ich glaubte ihr. Sie hatte dunkle, glatte Haare und riesengroße grüne Augen, und sie sah aus wie fünfundzwanzig, obwohl sie schon sechzig war oder vielleicht sogar noch älter, das wusste keiner so genau. Tante Frida war übrigens die Frau von Onkel Bob.
»Tristan kommt später, er muss noch mal in den Stall«, sagte ich und Poldi bellte zur Bestätigung. »Kann ich schon essen? Ich sterbe vor Hunger«, behauptete ich und verschwieg, dass ich mir gerade noch eine nicht unerhebliche Menge Gummibärchen reingepfiffen hatte. Poldi behauptete vorsichtshalber dasselbe, indem er erneut laut bellte.
Tante Frida ließ sich erweichen, obwohl gemeinsames Essen bei ihr hoch im Kurs stand. »Dann lass es dir mal schmecken, meine Süße. Du kannst ja eine ordentliche Portion vertragen.« Sie rollte vielsagend mit den Augen.
Das mit der Portion sagte sie immer. Ich bin nämlich nicht gerade voluminös – die Einschätzungen schwanken zwischen klapperdürr (Tristan) und zart gebaut (Mama) – und Tante Frida meinte stets, dass ich zu wenig essen würde, was jedoch nachweislich nicht stimmte.
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