»Warum hast du oben auf deinem Kopf nur mehr so wenige Haare?«, hatte Helene gefragt und ihr hinterhältiges Grinsen ließ den Mann namens Klaus davon ausgehen, dass dieses kleine Mädchen offenbar ein gesteigertes Interesse daran hatte, ihn vorzuführen.
»Geh, Helene, du weißt genau, warum. Der Salzburg-Opa hat dir das doch erklärt!«, hatte Karin lachend geantwortet. Der Mann namens Klaus lachte herzlich mit.
Er nahm zur inneren Beruhigung einen Schluck aus seinem Wasserglas, während Karin ihren Laptop öffnete und ein Zeichentrickvideo startete, um Helene ruhigzustellen. Auf ihrem Bildschirm konnte er den Namen des Familienforums erkennen, in dem er sich vor Jahren einmal aus Langeweile und anderen Gründen angemeldet hatte. Er wurde rot.
Karin erzählte vom anstrengenden Umzug nach Wien, ihrer Familie in Salzburg und ihrem ebenfalls dort ansässigen Ex-Mann, der ihren Mercedes von 50 000 auf 30 000 Euro Fahrzeugwert heruntergefahren und ihn ihr schlussendlich nach längerem Streit um 8000 Euro abgekauft hatte. In Raten. Aber sie sei so froh gewesen, diesen Versager aus ihrem Leben streichen zu können, dass sie sogar das in Kauf genommen hatte. Der Mann namens Klaus war enttäuscht von einer dermaßen durchschnittlichen Lebensgeschichte und Autowahl. Heimlich zählte er ihre Sommersprossen und stellte sich das Muster vor, das sie unter ihrer Kleidung ergeben mochten. Karin wurde langsam unruhig und gab einen Termin vor, um das Treffen zu beenden. Er kannte das, darin hatte er Übung. Leute, die einen loswerden wollten, beschleunigten ihre Bewegungen und stellten gleichzeitig den Blickkontakt fast gänzlich ein. Karin schob die Gläser auf dem Sofatisch zusammen und wischte ein paar Brösel auf den Fußboden. Egal, dachte er, ich krieg dich schon noch.
Wieder zuhause loggte er sich sofort in das Familienforum ein und begann zu recherchieren, welche der Nutzerinnen Karin sein könnte. Er sondierte nach Alter, Wohnort, Kinderanzahl. Er durchforstete das Alleinerzieherinnen-Unterforum und wurde fündig. Vor einiger Zeit hatte sich tinkerbell erkundigt, wie man frisch zugezogen nach Wien möglichst schnell einen Kindergartenplatz bekommen konnte. Mit klopfendem Herzen klickte er auf tinkerbells Profil und fing an, ihre hundert letzten Beiträge zu überfliegen. Bingo. Sie hatte eine Tochter mit einem wunderschönen dreisilbigen klassischen Vornamen, einen schrecklichen Ex-Mann, viel Ahnung von Salzburgs Gastronomieszene und sie empfahl aufdringlich häufig eine spezielle Sonnencreme mit LSF 50 für empfindliche Haut, die stark zu Sommersprossen neigte. Seine Finger zitterten und er bemerkte erst jetzt, dass er seine Hemdsärmel fast bis zum Ellenbogen hinunter vollgeschwitzt hatte.
HERB JUNIOR HATTEGeorg erst verlassen, nachdem er sich sicher war, mit der Krankheit nicht länger umgehen zu können. Ihre Unheilbarkeit verleidete ihm das Zusammenleben, die immer schlimmer werdenden Schübe raubten ihm den hoffnungsvollen Blick in die Zukunft. Herb Junior war kein Unmensch, aber er hatte sich selbst verloren in dieser Liebesbeziehung, als komplett gesundem Menschen fiel es ihm einfach schwer, sich in Georgs kränkelnde Welt einzufühlen. Lange Zeit überlagerte Georgs künstlerische Potenz sein Siechtum, Herb Junior hatte ihn von Anfang an bewundert für seine Vielseitigkeit. Georg hatte Schauspiel studiert und mit Auszeichnung abgeschlossen, aber nicht nur auf der Bühne machte er eine gute Figur, er schrieb auch Theaterstücke, bisher zwei, um genau zu sein. Das erste war ein Sermon über die zerstörerische Langeweile der Wohlstandsgesellschaft und wurde im Feuilleton nur deswegen verrissen, weil die Kritiker das zynische Stilmittel der Redundanz nicht verstanden. Sie fanden es langweilig, aber eben nicht auf diese geniale Art, die Georg beabsichtigt hatte. Herb Junior musste wochenlang seine schlechte Stimmung und einen heftigen Krankheitsschub ertragen.
Georg schlief mit dem Hauptdarsteller des Stückes, weinte danach und erklärte seine Sexsucht wiederholt zum Fluch seines Lebens. Ein nicht zu überwindendes Martyrium sei diese Suche nach dem Neuen, nach dem schnelleren Puls. Und so leer fühle man sich danach. Ausgelaugt, verbraucht und beschämt. Aber er brauche das, als Künstler habe man ja die Verpflichtung, nicht zu stagnieren, Erfahrungen zu sammeln wie andere Bonuspunkte im Drogeriemarkt.
Sein zweites Stück wurde immerhin ein mäßiger Erfolg, da der verantwortliche Theaterintendant, ein väterlicher Gönner aus Georgs schauspielerischen Anfängen, von der Krankheit wusste und Mitleid mit ihm hatte. Er inszenierte das Stück gemeinsam mit Georg. Herb Junior saugte nach manchem Konzeptionsgespräch der beiden Künstler schluchzend mittellange graue Haare von seinem eigenen Kopfpolster.
Das Stück war provokant futuristisch, wurde dezent beklatscht und gespalten rezensiert. Es handelte von einem Altnazi, der im Pflegeheim seine letzten Jahre absitzend noch einen zweiten Frühling erleben darf, als er sich unsterblich in seinen Pflegeroboter verliebt, besprochen von Chris Lohner. Georg bezeichnete das Stück als vergangenheitsbewältigende Technologisierungskomödie, Herb Junior mochte in erster Linie den Klang der Stimme Chris Lohners, wenn sie »Die Fleischlaberl sind klein gemacht, keine Sorge. Ich hole Ihnen einen Bekleidungsschutz, Herr von Eberstein!« hauchte.
Die Trennung war überraschenderweise ganz ohne Dramen abgelaufen, denn Georg hatte exakt an dem Tag, an dem Herb Junior seine Sachen packte, die seltene Gelegenheit bekommen, für einen Moderationsjob vorzusprechen. Er bekam den Vertrag sofort und von nun an musste Herb Junior ihn jedes Wochenende ertragen, wenn er die Kugeln der Lottoziehung durcheinanderwirbeln ließ.
Sonntags war Herb Junior oft bei seinen Eltern eingeladen, sah sich nach den Nachrichten gemeinsam mit Herb Senior die Ziehung der Lottozahlen an und hörte von ihm jedes Mal einen fast wortidentischen Vortrag über die Dummheit der Massen, die auf diese Art Reichtum hofften, während er daran dachte, wie Georgs Freunde ihn wohl hänseln würden wegen der fliegenden Bälle. Herb Junior lief eine Gänsehaut über den Rücken, wenn er sich seinen Vater und Georg in einem Raum vorstellte. Die beiden hätten sich auf Anhieb gehasst, so viel stand fest. Der gelangweilt moderierende Georg war ihm viel zu präsent im Wohnzimmer, insgeheim wartete Herb Junior darauf, dass er nach »Und jetzt zur Zusatzzahl« einmal seelenruhig »Übrigens, mein Ex ist Frauenarzt und sein Vater hat keine Ahnung, dass er auf Männer steht« in die Kamera sprechen würde. Dieser Nervenkitzel verflog nie, auch längere Zeit nach der Trennung nicht.
HERB SENIOR WOLLTEdringend noch einen Kaffee trinken, bevor er sich bereit fühlte für den ersten Ultraschall des Tages, er ging am Wartebereich vorbei und grüßte freundlich in die hoffnungsvolle Runde unterschiedlich dick angeschwollener Bäuche. Herb Junior war schon da, er sah schrecklich aus und verschwand gerade im CTG-Raum im hinteren Teil der Praxisklinik. Der Sohn war viel größer als er, von Natur aus schlank, hatte die besten Voraussetzungen für die optische Komponente seines Berufs und füllte dennoch seinen Arztkittel mit der unglückseligen Mischung aus einer nicht vorhandenen Körperspannung und nach vorne hängenden Schultern. Heute sah er besonders niedergeschlagen aus, ein wenig so, als hätte er geweint, wahrscheinlich nutzte er die frühmorgendliche Ruhe im CTG-Raum, um sich zu sammeln. Herb Senior fand diese Vorgehensweise vernünftig und freute sich, dass sein ausbleibender Impuls, mit dem Sohn in Kontakt zu treten und dessen Befinden zu erfragen ganz wunderbar mit der rationalen Entscheidung korrespondierte, dass es besser wäre, ihn das selbst regeln zu lassen.
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