Herb Senior verabreichte ihr also Beruhigungsmittel, untergemischt in eine Wurst, wie einer renitenten Hauskatze. Magdalena kratzte die Fleischfaser von der Tablettenschachtel, steckte sie wieder in den Mund und schluckte.
HERB JUNIOR WARheute zwar in der Ordination, aber nicht bei der Sache. Am Morgen hatte er im Lift das Parfum des Nationalratsabgeordneten gerochen, Mandarino di Amalfi von Tom Ford, süßlich dominant, ein eindeutiges Statement. Kein heterosexueller Mann verwendete Tom Ford. Die Frauen des Hauses konnte er alle ausschließen, auch wenn das bei der ansonsten glasklaren Beweislage zur sexuellen Orientierung des Nationalratsabgeordneten unnötig war, die hatten keinen Geschmack, bis auf seine Mutter, aber Magdalena fuhr nie mit dem Lift. Die restlichen Bewohnerinnen arbeiteten zumeist irgendwo im Verkauf und trugen grauenhaft zitronige Synthetikmischungen, so üppig aufgesprüht, dass Herb Junior bestätigt wurde in seiner Theorie über den Verfall des Geruchssinnes im Einzelhandel. Je länger die Frauen täglich in Kosmetikabteilungen oder Drogerien standen, desto mutiger setzten sie sich zur Wehr gegen die starke Beduftung dort, indem sie sich selbst von oben bis unten einnebelten, um nicht komplett unterzugehen in diesen gnadenlosen Neonlichthöllen.
Jetzt saß eine erwartungsvolle Schwangere vor ihm, sechste Woche, und er hatte keine Lust auf die Untersuchung. Die Frau war schrecklich dünn, litt an Morgenübelkeit und wollte endlich einen Herzschlag hören. Herb Junior bat sie, den Bauch freizumachen, sichtlich irritiert gehorchte sie. Er drückte den Schallkopf auf ihre Bauchdecke, eventuell etwas zu fest, aber obwohl sie so schlank war, bekam er nichts zu sehen. Also doch vaginal. Der Herzschlag war schnell gefunden, die Schwangere glücklich.
Herb Junior fixierte die große Tätowierung auf ihrem Oberschenkel, ein grimmig dreinblickendes kleines Mädchen mit Zigarette im Mundwinkel.
»Woher stammt diese Narbe hier am Unterbauch«, fragte er.
»Äh, von meinem Kaiserschnitt«, antwortete die Schwangere.
»Sie können sich wieder anziehen«, sagte er.
Herb Junior zog die Einweghandschuhe aus und wusch sich gründlich die Hände und Arme, bis fast zum Ellenbogen. Er roch an seinen Fingern, seifte sie ein zweites Mal ein und spülte sie gründlich ab. Seine Hände waren rot und schmerzten vom eiskalten Wasser.
DREIUNDZWANZIG NEUE BEITRÄGE.Karin hatte nur kurz Mittagessen gekocht und schon gab es dreiundzwanzig neue Beiträge zu ihren abonnierten Threads im Familienforum. Sie schaltete die Kaffeemaschine ein und machte es sich auf dem Sofa gemütlich. Helene schlief, Karin hatte jetzt ungefähr eine Stunde Zeit, um selbst etwas zu schreiben, bevor ihre Tochter wieder aufwachen würde.
Heute wurde über die Ethik der Leihmutterschaft, die Veganität von Muttermilch und über die anstehenden Nationalratswahlen diskutiert, durchsetzt von den üblichen Finanzgeschichten, bei denen es in erster Linie darum ging, wer mehr Geld hatte als die anderen und das so subtil in seine Forumsidentität einflechten konnte, dass niemand sich traute, seinen Neid zu verbalisieren. Man pflanzte den Neid in eine Cloud, sozusagen. Karin hatte mittlerweile gelernt, dass man Geld nur für bestimmte Dinge ausgeben durfte, für Bioobst, ein faltbares Fahrrad, für Ergotherapien und ein Kindertheater-Abo, eventuell noch für nachhaltige Reisen in streng ökologisch geführte Ferienresorts, sicherlich aber nicht für eine Nanny, Handtaschen oder Kosmetik. Das Beschäftigen einer Nanny führte nämlich nach drei Threadseiten zur Conclusio, dass man besser gar keine Kinder hätte bekommen sollen, wenn man sie nicht durchgehend selbst betreute. Eine teure Handtasche bedeutete, dass man die Prioritäten im Leben falsch setzte, und eine Affinität zu Luxuskosmetik, dass man oberflächlich war und dumm genug, den leeren Versprechungen der Industrie zu glauben.
Karin wusste nicht genau, warum sie seit Jahren süchtig nach diesem Forum war, dessen Teilnehmerinnen sie sich alle entweder sozial komplett unbeholfen oder so besserwisserisch vorstellte, dass das reale Umfeld die Flucht ergriffen hatte. Wie sie selbst dort hineinpasste, darüber vermied sie nachzudenken, denn sie beschäftigte sich nicht gerne mit eventuellen Defiziten ihrer Persönlichkeit, sondern lieber mit denen der anderen, zudem konnte sie außerhalb ihres Berufslebens nicht viel Zeit in soziale Kontakte investieren. Manchmal reichte es ihr, nur zu lesen und teilzuhaben an den rührend tollpatschigen Selbstdarstellungen im Netz. Vor allem die Männer hatten es ihr angetan. Das Familienforum wurde nämlich fast ausschließlich von Nutzerinnen besiedelt, man konnte die Nutzer an zwei Händen abzählen. Zu ihnen gehörte zum Beispiel der latent unzufriedene Apachenträne76 , der so besessen war vom Sozialdarwinismus, dass er seine Tochter – natürlich Einzelkind, denn alles andere hätte einen Verlust der Finanzkraft zur Folge gehabt – zum Bogenschießen und Kampfsport zwang, damit sie der Härte der Welt eines Tages gut gerüstet gegenübertreten konnte. Er partizipierte nie an privaten Themen, außer es ging um Schulhofprügeleien (Sehr gesund für die Entwicklung! Nur Weicheier wollen ohne Gewalt durchs Leben!) , das Sammeln von Uhren (Chronographen, bitte, so viel Zeit muss sein!) oder das Schreiben von Kinderbüchern (Durch strategisch effiziente Produktplatzierung beeindruckende Verkaufszahlen der Werke aus Eigenverlag) .
Einmal hatte er versucht, sie über private Nachrichten anzuflirten. Darin war er nicht besonders geschickt, ging es doch hauptsächlich um ein vages Anklingenlassen seines überdurchschnittlichen Einkommens und seine Vorliebe für Funktionskleidung. Karin hatte sich konservativ wild gegeben, eine riskante Mischung, aber sie wollte schon immer einmal der aufflammende Traum eines Mannes sein, der das Scheitern seines Lebens final auf sich zukommen sah. Karin gefiel es, wenn alternden Männern allmählich jede Möglichkeit eines Alphatierdaseins geraubt wurde, trotz eigentlich bester Voraussetzungen. Bei Frauen passierte der Prozess des Scheiterns viel zu früh und schnell, er tat den meisten auch nicht weh, sondern war nichts weiter als natürliche Fügung. Man bekam Kinder, so war das eben.
ALS MAGDALENA HERBSenior in den Achtzigern auf einem Fest des Tennisclubs kennengelernt hatte, fiel ihr zuallererst auf, wie weiß der Kragen seines Polohemds war. Leuchtend rahmte er sein Gesicht, ein spiegelverkehrter Heiligenschein. Obwohl Herb Senior schon damals einen Hang zum Übergewicht hatte, schwitzte er weniger als der Durchschnitt und wirkte fit und frisch. Sein Fleisch war fest.
Magdalena fand Mediziner von allen Berufsgruppen am anziehendsten, sie gab sich gerne der Illusion hin, mit ihrem Partner eine Geheimwaffe gegen den Tod zu besitzen. Sollte jemals das viel beschworene weiße Licht zu einem unerwünschten Zeitpunkt auf sie zukommen, dann könnte sie »Stopp! Mein Mann ist Arzt!« rufen, und wenn das nichts nutzen würde, gäbe es immerhin als österreichische Eigenheit die Option auf einen Grabstein mit einem in goldenen Lettern eingemeißelten »Frau Doktor«.
Herb Senior war witzig und selbstbewusst, er hielt Türen auf und legte seine wohltemperierten Finger sanft zwei Handbreit unter Magdalenas Schulterblätter. Das gefiel ihr, erinnerte es sie doch an die Art, wie ihr der Vater damals das Schwimmen beigebracht hatte, die Hand immer sanft an ihrem Bauch, kaum spürbar, aber sofort mit aller Kraft da, sobald sie unterzugehen drohte.
Jedes Mal, wenn sie die Orientierung verlor, was ihr in den verwinkelten Räumlichkeiten des Clubhauses und unter Einfluss eines leicht erhöhten Weißweinkonsums andauernd passierte, dirigierte Herb Seniors Hand sie in die richtige Richtung. Magdalena beschloss, dass er eine ernsthafte Möglichkeit für ihre Zukunft zu sein hatte.
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