1 ...6 7 8 10 11 12 ...29 »Wir können ja mal hingehen und es uns von außen ansehen«, schlug Rian vor.
»Also schön.« Die Ablenkung würde seine Gedanken von der Düsternis fernhalten, die sich auf der kleinen, zarten Seele breitmachte.
Das Gebäude lag direkt neben einer Kirche, klein und unscheinbar klebte das Haus an dem monumentalen Seitenschiff. Und doch hatten sie etwas gemeinsam. Beide waren aus dunklen Schiefersteinen erbaut, die für diese Gegend typisch waren. Ein wenig grobschlächtig, strahlten sie trotz ihrer Schlichtheit eine gewisse Gemütlichkeit aus. Einen eigenen Charakter, im Gegensatz zu den modernen Stadtbauten.
La Porte des Secrets prangte über der weiß gestrichenen Eingangstür mit den eingesetzten Glasfenstern. Seitlich davon war das Logo an die Wand gemalt – eine symbolische Darstellung des Waldes. Einfach und kraftvoll zugleich, wie eine Rune.
Farbige Strahler beleuchteten das Haus, eingebettet in den Rhythmus von Gezwitscher und dem Sausen des Windes, wie David es bereits im Café vernommen hatte.
»Kommen Sie, treten Sie ein und lassen Sie sich von den Legenden rund um Brocéliande und seinen vielen Bewohnern verzaubern«, begrüßte sie eine Stimme. »Mein Name ist Pierre und ich werde auf dieser Tour Ihr Begleiter sein.«
Da sie nun schon da waren, kaufte David zwei Tickets und sie betraten den verschlungenen Pfad im Gebäude, der sie zu den verschiedenen Attraktionen führen würde.
Pierres Werkstätte machte den Anfang. Er erzählte ihnen, wie intensiv die Region einst von den Früchten des Waldes gelebt hatte. Von ihrem Holz, aber auch von den Tieren, die darin lebten.
»Das prachtvollste Tier war der Hirsch. Er durchschritt im Frühling, Sommer, Herbst und Winter den Wald und achtete darauf, dass alles im Gleichgewicht blieb«, erklärte die Stimme aus dem Lautsprecher, während sie die authentisch zusammengestellten Kulissen betrachteten.
»Vielleicht haben Sie sich schon gefragt, ob die kleinen Symbole auf unserer bretonischen Flagge eben diesen Hirsch darstellen. Doch mit dieser Vermutung liegen Sie falsch. So groß und imposant das Tier mit seinem Geweih auch sein mag, es steht in der Gunst der Bretonen nur an zweiter Stelle. Wappentier und heiligstes Geschöpf dieses Waldes ist das Hermelin.«
Gleichzeitig mit dieser Verkündigung betraten David und Rian den nächsten Abschnitt und standen unversehens in einem schummrigen Raum, der an den Wänden Szenen aus dem Wald nachstellte.
»Es ist eine Projektion«, staunte Rian. Denn die Figuren, die in einer Art Scherenschnitt-Technik gezeigt wurden, bewegten sich. Abermals erklang die Musik der Natur und bannte auch Davids Aufmerksamkeit, während Pierre seine Geschichten weiterspann.
»Da ist es wieder!«, rief David, als plötzlich ein weißes Tier in der Kulisse auftauchte und flink von einer Seite zur anderen lief.
Die restlichen Zuschauer, die sich in diesem Raum eingefunden hatten, drehten sich um und musterten David mit unverhohlenem Grinsen.
»Wieso wieder?«, frage seine Schwester hinter vorgehaltener Hand, um keine weitere Aufmerksamkeit zu erregen.
»Weil ich es bereits bei unserer Ankunft am Hotel gesehen habe«, gab David zu.
»Das weiße Hermelin, genau wie der weiße Hirsch und die ebenso schneeweiße Eule sind, der Sage nach, einige der Boten jener Fee, die unter dem Namen Viviane, Nimue oder auch Herrin vom See aus der Artus-Sage bekannt geworden ist.« Wieder war es Pierre, der für Aufklärung sorgte.
»Also beobachtet Nimue uns bereits?«, fragte Rian.
David zuckte unschlüssig mit den Schultern.
Als die Show vorbei war, blieben sie ein Stück zurück, während der Besucherstrom sich vorwärts, den Gang entlang zum nächsten Abschnitt bewegte.
»Ein bisschen seltsam sind diese Zufälle schon. Findest du nicht?«, sagte seine Schwester mit gedämpfter Stimme. »Du siehst weiße Tiere, dann schickt uns die Café-Besitzerin hierher und ich ziehe dazu auch noch Nimues Karte.«
»Oder die Karten waren gezinkt und hätten alle das gleiche gezeigt, weil sie Werbung für diese Touristen-Attraktion machen soll«, konterte David.
»Und das Hermelin?«, blieb Rian hartnäckig.
David verzog den Mund. »Es hat geregnet. Der Himmel war voller Blitze. Vielleicht habe ich auch nur eine weggeworfene Flasche gesehen, die am Parkplatzrand entlangrollte und nur weiß gewirkt hat.« Er wusste selbstverständlich, dass es Übernatürliches in vielfältiger Form in der Menschenwelt gab. Aber nicht alles was danach aussah, hatte wirklich einen magischen Ursprung. Dennoch. Ein leiser Zweifel blieb und nistete sich ein.
»Schau doch! Da sind Kobolde!«, rief Rian. Sie war vorgegangen und winkte David eilig zu sich.
»Du willst doch nicht etwa behaupten, Ceridwen wäre ein Kobold!«, tönte hinter David eine wohl bekannte Stimme. Pierre. Live und leibhaftig!
»Ceridwen, die Göttin?«, fragte Rian verwirrt.
»Oh, sie war vieles, aber allem voran war sie eine mächtige Fürstin und Druiden-Priesterin. Ihr Haar soll so schwarz wie die Nacht gewesen sein und so wundervoll glitzernd wie das Firmament«, berichtete der stämmige Mann routiniert und strich sich sinnend über seinen kastanienfarbenen Vollbart.
»Was hat sie mit den Korrigans zu tun?«, hakte Rian wie immer neugierig nach. Denn die Göttin war auf dem Bild von einer Schar kleiner Gestalten umringt.
»Der Legende nach ist die Fürstin mit einigen anderen Frauen in den Wald geflohen, um den Pfaffen zu entkommen. Die Kirche hat damals regelrecht Jagd auf alle Andersgläubigen gemacht. Es heißt, sie hätten sich mit der Natur vereinigt, um so zu wunderschönen, wie auch überaus gefährlichen Feen zu werden – magische Gestalten, die in die Zukunft blicken konnten, Krankheiten heilen und in jeder beliebigen Gestalt erscheinen konnten, um jenen zu helfen, die es verdienten. Die Bösen hingegen verfolgten sie und führten sie mit Hilfe von Trugbildern in die Irre.«
Es war schwer herauszulesen, wie viel Pierre davon wirklich glaubte und was einfach nur Teil einer guten Geschichte war. Ceridwen war in Earrach durchaus ein Begriff. Getroffen hatte David sie nie und wie es aussah, konnte er froh darüber sein.
»So, wie ihr die Fürstinnen, die ihr Korrigans nennt, hier in der Ausstellung findet, sehen sie sie nur tagsüber aus. Der Tribut, den ihre magischen Fähigkeiten fordern. Nachts verführerisch schön und am Tage zusammengeschrumpelt und knorrig wie die Wurzeln, mit denen sie ihre Tränke brauen und die Zauber wirken.« Pierre wandte sich an Rian und schnalzte einmal mit der Zunge. »Und da es dunkel ist, bin ich mir gar nicht so sicher, wen ich hier gerade vor mir habe.«
Der nächste Verehrer in der Reihe. David verzog das Gesicht. »Mein Magen knurrt, wir sollten zurückgehen, um es noch rechtzeitig zum Hotel zu schaffen, bevor das Restaurant schließt.«
»Ich begleite euch! In welchem wohnt ihr?«, lud sich Pierre mit unüberbietbarer Dreistigkeit ein.
Rian gluckste, als sie Davids Miene bemerkte. »Warum nicht. Ich höre gern Geschichten. Besonders, wenn sie von machtvollen Frauen handeln.«
Damit sank Davids Laune auf den Nullpunkt. War das die Retourkutsche für seine unfreundlichen Worte im Café? Wenn ja, hatte sie es ihm mit dieser Aktion doppelt und dreifach zurückgezahlt. So viel war sicher.
Den Rest der Ausstellung ließen sie ohne anzuhalten hinter sich. Ihr redseliger Begleiter gab am Ausgang bei der Kassiererin Bescheid, dass er Feierabend machen würde, und schon waren sie auf dem Weg zurück ins Le Relais de Brocéliande .
»Wird es nicht irgendwann langweilig, immer wieder dieselben Geschichten zu erzählen?«, fragte David, als sie sich an einen der Tische auf der von Kerzen erleuchteten Terrasse des Le Bistrot gesetzt hatten.
»Ich mache auch Führungen durch den Wald und zu den verschiedenen Sehenswürdigkeiten«, erklärte Pierre stolz.
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