»Willkommen«, drang eine tiefe Bassstimme durch das Dickicht. Es raschelte und zu Rians und Davids großer Überraschung trat ein Hirsch zwischen den Bäumen hervor. So überaus strahlend weiß und majestätisch schön, dass Rian ein Laut der Entzückung über die Lippen kam.
»Ich bin der Wächter. Ihr seid die Suchenden«, ließ das Tier erneut seine voluminöse Stimme erklingen.
Die Zwillinge verbeugten sich und der Hirsch erwiderte ihre Geste. Er senkte sein Haupt mit dem gewaltigen Geweih, während er leise schnaubte.
»Heiliger Wächter, wir wurden von der Blauen Dame gesandt, weil Nimue, die Herrin vom See, nach uns rufen ließ. Kannst du uns in ihr Schloss geleiten?«, fragte Rian so sanft, als würde sie mit einem Kind sprechen, und so ehrfürchtig, als stünde sie einem leibhaftigen Gott gegenüber.
»Ich bin hier, um euch den Weg zu weisen. Doch gehen müsst ihr den Pfad des Erkennens selbst. So wollen es die Regeln, die dem Heim unserer Herrin Schutz gewähren«, kam die vage Antwort.
»Aber die Herrin erwartet uns«, wandte Rian ein.
»Der Weg ist schon seit Jahrhunderten verschlossen«, antwortete der Hirsch prompt.
Endlich dämmerte es ihr. Es war kein Rätsel, keine Aufgabe. »Nimue ist gefangen in ihrem eigenen Zuhause!«, rief sie.
Der weiße Hirsch schwieg. Seine Augen waren schwarz. Auf den Pupillen spiegelte sich der Wald, als würden sie die Natur in sich tragen. Nachdem Rian und David nichts weiter sagten oder taten, stampfte er mit den Vorderhufen ungeduldig auf und schnaubte erneut.
Seine Nase wirkte wie blank polierter Onyx, so schwarz und glänzend war sie. Bei jedem Ausatmen strömte ein Nebelhauch aus den Nüstern. Hatte er den Dunst über dem See erzeugt? Oder war er einfach nur Teil dieses Verwirrspiels?
Rian sah Hilfe suchend zu ihrem Bruder. »Wenn Nimues Schutzzauber sich gegen sie selbst gerichtet hat, dann haben wir ein ziemlich großes Problem. Wir sind nicht so mächtig, gegen Elementarmagie antreten zu können.«
»Einerseits, ja. Andererseits gehört zu jedem Schloss ein Schlüssel. Wenn der Weg also verschlossen ist, dann benötigen wir im Prinzip nur den Schlüssel?«, fragte David.
»So ist es«, bestätigte das majestätische Tier, offenbar erleichtert, und beruhigte sich etwas.
Rian blinzelte, als ihr klar wurde, dass ihr Bruder den Lösungsweg gefunden hatte. »Und der Schlüssel ist hier , weil ihr hier seid – du und das Hermelin. Wir müssen ihn also finden! Oder … erkennen?«
Der Hirsch senkte sein gewaltiges Geweih zu einem angedeuteten Nicken.
Sie und David blickten in das Dickicht, drehten sich um die eigene Achse. Einen Schlüssel für ein Schloss. Ein Schlüssel, den man in das passende Loch steckt und dreht. Ein Schlüssel, um eine Botschaft zu decodieren. Ein Schlüssel als Dechiffrierschablone, um im Gewöhnlichen das Ungewöhnliche zu entdecken , ging Rian die Möglichkeiten im Geiste durch, die ihr dazu einfielen. Es fühlte sich an, als wäre sie der Lösung bereits nahegekommen, ohne sie noch zu sehen.
Sie ließ den Blick abermals über den See schweifen. Der Dampf hing weiterhin wie züngelndes Schattenfeuer über der Wasseroberfläche. Die Nebelflammen stiegen unablässig empor, wiegten sich im Wind, tanzten und vergingen wieder. Ein Reigen aus Werden und Vergehen, gespeist aus dem immer selben Becken.
Je länger sie hineinblickte, desto öfter meinte Rian, Figuren darin zu erkennen. Unförmige Gestalten, Pflanzen, Tiere. Und plötzlich verstand sie es, wusste, was die Worte des Boten zu bedeuten hatten. » Sie zeigen uns den Weg«, sagte Rian und machte einige Schritte auf den See zu, ohne den Blick von den Formen abzuwenden.
»Wer?«, fragte David irritiert. Sie spürte, dass er ihr folgte, als sie sich auf den See zu bewegte.
»Du musst nur richtig hinsehen. Hineinsehen, ohne etwas Bestimmtes erkennen zu wollen«, sagte Rian, gebannt von dem Schauspiel, das sich ihr bot. »Als wären wir in unserer Welt. Wir haben zu sehr auf die Menschenwelt geachtet. Der See ist hier aber nur verankert, wie ein Tor, und wir müssen die Grenze überschreiten. Die Boten weisen uns den Weg.«
Der Hirsch blieb hinter ihnen zurück, während das Hermelin über den See lief, sich zwischen den Nebelsäulen hindurch schlängelte, hinein tauchte, nur um eine Körperlänge weiter vorn wieder aufzutauchen. Ein Umriss nur, aber auf magische Weise so real wie alles andere, das Rian wahrnahm.
»Komm«, sagte sie und hielt ihrem Bruder hinter ihr die Hand entgegen.
Diesmal blieb David stumm, als er seine Hand voller Vertrauen in ihre legte und sie sanft umschlang. Ihr Zwillingsblut ließ ihre elfische Seite im Gleichklang schlagen, so wie einst.
Gemeinsam folgten sie dem kleinen Boten. Und als Rian den ersten Schritt in den See hinein unternahm, da teilten sich der Nebel und das Wasser und gaben einen schmalen Pfad zwischen den Elementen frei.
Hügel von Tara
Bandorchu saß auf ihrem Bett im frisch errichteten Schlafgemach und spießte mit einem Zahnstocher die Augen einer unartigen Dryade auf, die man ihr auf einem Teller serviert hatte.
Ohne ihre Besitzerin waren es nur mehr tote hölzerne Klötze, in deren Mitte eine bleiche, eichelförmige Pupille saß. Das Leben eines Menschen war genauso leicht zu beenden wie das eines Baumgeistes. Es war der Widerstand, den Bandorchu so sehr an den Nicht-Elfischen genoss. Dieser kindliche Trotz, gepaart mit einem starken Willen, der im Kontrast zu ihren verletzlichen Leibern stand. Doch gegen Magie waren sie machtlos. Selbst ein einfacher Kobold wie der Springgans konnte sie dazu bringen, willenlos Befehlen zu folgen. Und genau das würde sie sich zunutze machen. Das hatte er mit dieser albernen Zahnstocherlieferung eindrucksvoll bewiesen.
Die Dunkle Königin konzentrierte sich und sog die Energien, die über die Ley-Linien zu ihr strömten, in sich auf. Ihr treuer, schattenloser Diener hatte gut daran getan, die Stäbe an den nördlichen fünf Hauptknoten zu setzen, um ihr die Quelle der Macht zugänglich zu machen.
Auf diese Weise konnte sie ihr Reservoir zur Gänze auffüllen, zu hundert Prozent auftanken, statt sich weiter mit den Häppchen zufrieden geben zu müssen, die die Menschen ihr geboten hatten. Wirre, beschädigte Seelen, die Bandorchus Diener nach dem Übertritt in diese Welt aus den abgelegenen Gassen der Städte herangeschafft hatten. Doch damit war vorerst Schluss. Jetzt, da sie auf die geballte Energie aus der Erde zugreifen konnte.
Alle würden ihr zu Willen sein, wenn sie sich erst diese Welt und die der Sidhe Crain Untertan gemacht hatte. Der nötige Grundstein war gelegt, das Basislager im Aufbau. Nun galt es, den Schlachtplan genauer auszuarbeiten. Sie brauchte noch mehr Macht, mehr Energie! Sie würde ihre Heerschar zu einem einzigen vernichtenden Schlag in den Krieg führen. Also musste jedes noch so winzige Rädchen im Getriebe einwandfrei funktionieren.
Und ausgerechnet in dieser vielleicht alles entscheidenden Stunde war ihr wertvollster Diener nicht hier! »Wo bist du?«, rief die Dunkle Königin in den leeren Raum hinein. »Komm zu mir, damit ich dich für deinen Verrat büßen lassen kann!«
Doch der Getreue tauchte nicht auf. Trotzte ihr schon wieder! Einmal mehr wünschte Bandorchu sich ihr Hündchen herbei, um es zu treten, zu würgen und sich an seinem Leid sattzusehen. Kein anderer hatte es je so lange an ihrer Seite ausgehalten, in Knechtschaft und Pein. Hin und her gerissen zwischen Verzückung und Qual.
Mit einem Wutschrei sprang die Königin auf und befahl dem Mann ohne Schatten, zurückzukehren und sich ihr auszuliefern. Das Band zwischen ihnen war eng geknüpft. Sie und ihn verband so viel mehr als nur das Streben nach Macht. Sie waren voneinander abhängig. Er brauchte sie. Er zehrte von ihr. Und er würde kommen! Kommen müssen!
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