»Gewiss doch, Sir, dafür haben wir ein kleines Séparée«, sagte der Mann indigniert. Ihm war deutlich anzumerken, dass er Edmond für keineswegs zahlungskräftig genug hielt, war aber zu sehr Gentleman, um ihn sofort hinauszukomplimentieren. Er suchte Edmond ein paar Reststoffe heraus, die für diesen Zweck gedacht waren, und führte ihn in ein kleines, durch Vorhänge von Geschäft und Schneiderei getrenntes Abteil mit einem halbhohen Spiegel.
Das Herz hämmerte in seiner Brust. Und weiter? Allzu lange konnte er sich nicht aufhalten, bis er hinausgeworfen wurde.
Um seinen Atem zu beruhigen, dachte er an die Berechnungsformeln des Längenproblems, über das er in seinem Vortrag gesprochen hatte.
Eine Männerstimme erklang im Eingang. Ein scharfer, herrischer Bariton. Doch zu weit weg, um das Gesagte klar verstehen zu können. Edmond ging rückwärts, bis er sich im Vorhang verwickelte. Wie dumm er doch war. Hier drinnen saß er in der Falle!
Erneut waren Schritte zu hören. Jemand blieb auf der anderen Seite des Vorhangs stehen. Edmond konnte elegante Schuhspitzen durch den Spalt zwischen Vorhang und Boden sehen.
Doch bevor der Vorhang beiseite geschlagen werden konnte, hörte Edmond ein leises Poltern, gefolgt von einem Stolpern und Fluchen, und die Schuhspitzen verschwanden. »Verzeihung, das tut mir wirklich leid. So ein Missgeschick aber auch.«
Die neue Stimme war zu Edmonds Überraschung weiblich und gehörte ganz offensichtlich einer Französin, die bemüht war, gutes Englisch zu sprechen. Sehr ungewöhnlich für eine Nichtadlige.
Der Mann mit der Baritonstimme beschimpfte sie. »Was hat ein ungeschicktes Weibsbild hier überhaupt verloren?«
»Oh, das tut mir sehr leid, was für ein Unglück«, stammelte die Frau in fast schon übertrieben bedauerndem Tonfall. »Ich muss den edlen Herrn übersehen haben, als ich nach meinem Mann Ausschau gehalten habe. Ist er hier?«
Edmond blinzelte.
»Das kommt wohl darauf an, wer Ihr werter Herr Gemahl ist«, antwortete der Verkaufsmann hörbar pikiert.
»Er sagte, er wolle hier hereinschauen!«, gab die Französin ein wenig näselnd zurück. »Er hat einen furchtbaren Geschmack. Daher muss ich ihm bei der Auswahl helfen.«
»Madam, wir sind ein anständiges Geschäft! Ich weiß nicht, was für verlotterte Sitten in Frankreich Einzug gehalten haben, doch hier sind Sie als Frau fehl am Platze und ich muss Sie augenblicklich bitten zu gehen!«
»Sie haben ihn also nicht gesehen?«, wiederholte die Frau.
»Sie gehen jetzt!«, forderte der Gentleman sie erneut auf.
Der Mann mit dem Bariton pflichtete bei. »Sind wir hier in einer Hafenbar, dass verdorbenes Weibsvolk einfach reinmarschieren kann?«
Ein Schotte, da war sich Edmond sicher. Es lag an der Betonung der harten Konsonanten.
Unter Protest wurde die Frau aus dem Geschäft gedrängt, und der Schotte verschwand ebenfalls unter Flüchen.
Edmond wischte sich fahrig über das Gesicht, löste sich aus dem Vorhang und stürmte an dem Verkaufsmann vorbei, warf ihm die Stoffe in den Arm. »Gefällt mir alles nicht!«, rief er und rannte hinaus auf die Straße.
Im Moment war niemand in der Nähe. Hoffentlich versteckten sich der unheimliche Schotte und die seltsame Französin nicht irgendwo, um die Verfolgung wiederaufzunehmen. Immer noch wie betäubt, schlug Edmond erneut den Weg zur Royal Society ein. Eher ein Reflex, denn im Grunde war ihm viel mehr danach, sich in sein Bett zu verkriechen und die Welt dort draußen Welt sein zu lassen.
»Sir! Warten Sie!«, rief hinter ihm ein Junge. »Mister Halley! Bitte, Sir!«
Edmond zog die Brauen zusammen, blieb stehen und drehte sich um. Ein Junge mit schmuddligen Hosen kam ihm keuchend nach. Er hielt einen Ausschnitt des Zeitungsartikels in Händen, der vor einer Woche über Edmond und seine Berechnung der Sonnenfinsternis gedruckt worden war.
Vorgewarnt musterte er den Jungen mit prüfendem Blick. Doch der Knirps musste erstmal wieder zu Atem kommen. Schnaufend stand er vornübergebeugt da, während sich sein Rücken im schnellen Rhythmus hob und senkte.
»Was willst du, Junge?«, fragte Edmond barsch.
»Eine Nachricht, Sir. Ich soll eine Nachricht überbringen.«
Edmond schwante nichts Gutes.
»Die Lady hat mir den Artikel gegeben, damit ich Sie erkenne, Sir«, erklärte der Junge, nachdem er sich wieder aufgerichtet hatte.
»Welche Lady?«, fragte Edmond misstrauisch.
»Mistress Delainy. Weil es doch diesen Aufruhr gab und der Constable kommen musste. Sie sagte, ich soll Sie suchen.« Damit streckte er Edmond einen kleinen gefalteten Brief entgegen.
Es war tatsächlich Mistress Delainys Handschrift, das konnte Edmond sofort an den weiten Bögen der Anfangsbuchstaben erkennen.
Geehrter Mister Halley,
bitte kommen Sie umgehend nach Hause.
Es ist etwas Furchtbares geschehen!
Gezeichnet
Mistress Delainy
Das klang ernst, wenn auch ziemlich vage. »Seit wann suchst du mich?«, fragte Edmond.
»Ist schon ein Weilchen her, Sir. Hab mich aber wirklich beeilt, weil die Lady so aufgelöst schien. War erst im Park, weil’s hieß, da könnt ich Sie abfangen. Aber damit war’s nichts. Da bin ich hier entlang und zack, sind Sie mir ins Auge gesprungen. Ich hab nämlich gute Augen«, erklärte der Junge eifrig.
Edmond wusste, wieso. Er griff in die Hosentasche und reichte dem kleinen Boten eine Münze für seine Bemühungen. Dann eilte er den Weg zurück. Alles Weitere war vorerst nebensächlich.
Paimpont
Rian belud ihren Frühstücksteller mit allem, was das Hotel-Büfett zu bieten hatte. Dampfende Croissants, knackig frisches Baguette mit einem großen Stück Butter und dazu Ei, Aufschnitt und eine Handvoll Beeren, die sie oben drüberstreute.
»Willst du den ganzen Ort durchfüttern?«, scherzte David.
»Ich sorge nur vor«, entgegnete Rian mit breitem Grinsen und setzte eine Erdbeere obenauf.
Ihr Bruder versuchte gute Laune zu verbreiten, doch sie sah die dunklen Ränder unter seinen Augen. Er wirkte mitgenommen. Ausgelaugt. Nadjas Entführung und seine Hilflosigkeit in dieser ganzen Angelegenheit setzten ihm sichtlich zu.
Aber es war, wie die Blaue Dame und auch Fabio es gesagt hatten. Sie mussten zusammenbleiben, sich gegenseitig unterstützen. Wenn die Herrin vom See nach einem verlangte, dann hatte man sich einzufinden. Und zwar auf schnellstem Wege. Oder, zumindest ohne größere Zwischenstopps. So lauteten die elfischen Regeln. Egal, ob sie in der Anderswelt bei den Sidhe Crain waren oder hier in der Menschenwelt.
Rian war versucht, David gut zuzureden. Aber sie wusste, es würde alles nur noch schlimmer machen. Schließlich hatte er jetzt ein Stück Seele und damit auch ein ganz neues Repertoire an Gefühlen, die sich wie Wildpferde gebärdeten, wenn man die falsche Bewegung machte.
Stattdessen genoss Rian ihr Mahl, holte sich ein weiteres Glas Orangensaft und blickte durch die Fensterfront hinaus auf die noch vom Morgentau feuchte Terrasse. Durch den gestrigen Regen war es vergleichsweise kühl für die Jahreszeit. Der Himmel spannte sich in einem klaren Blau über den Ort. Es würde ein schöner Tag werden. Viel zu schön, um ihn damit zu verbringen, in ein mystisches Schloss unter Wasser zu hinabzusteigen. Aber genau das war ihr Ziel.
»Wie wäre es, wenn wir uns auf Fahrrädern auf den Weg zum See machen?«, schlug Rian erneut vor. Pierre hatte schließlich erwähnt, dass es einen Verleih gleich um die Ecke gab.
David verzog das Gesicht, trank von seinem Kaffee und bequemte sich erst nach einer Weile zu einer Antwort. »Willst du nassgeschwitzt vor Nimue treten?«
»Ach was. Wir nehmen einfach diese elektronischen Dinger. Die, mit denen das Fahren nicht so anstrengend ist. Das wird wie Rollerfahren in Italien. Wind im Haar, Sonne im Gesicht und die Welt lächelt einem zu.«
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