Doch diesmal nicht. Sie hatte nach dieser Halbelfe verlangt. Wollte sie um jeden Preis, vor allem, da sie das besondere Kind in sich trug. Nadja Oreso war die Waffe, mit der die Königin alle Welten endgültig in die Knie zwingen konnte.
Noch immer starben sie. Sie alle. Jeden Tag ein bisschen mehr. Auch Bandorchu. Doch das hatte sie längst in ihre Pläne mit einkalkuliert. Und auch ihr dunkelster Diener würde sich am Ende beugen müssen. Freiwillig oder nicht.
Bevor sie sich allerdings um den Getreuen kümmern konnte, musste sie ihre Macht nähren. Seit sie mit ihren Anhängern in Tara angekommen war und über dem historischen Machtzentrum – von dem aus Götter und Feldherren die Welt erobert hatten – den ersten Grundstein gelegt hatte, erhielt sie zusätzliche Energie und war nicht mehr auf Menschenseelen angewiesen.
»Erst die Arbeit, dann das Vergnügen«, säuselte die Dunkle Königin gegen den Wind und blickte ein letztes Mal über ihr neues Reich hinweg. Dann machte sie einen Schritt nach vorn über die letzte Treppenstufe hinweg und ließ sich ohne Vorankündigung in die Tiefe fallen.
London – Freitag, 26. April 1715
Der zu Boden geschlagene Edmond Halley zuckte unter dem Schuss zusammen, in der festen Überzeugung, im nächsten Moment jenen Schmerz zu spüren, der einem unausweichlichen Tod vorausging. Doch er fühlte weder den Treffer noch Wunde oder Blut, das sich warm und verräterisch auf ihm ausbreitete. Stattdessen erklangen Rufe.
»Stehenbleiben! Im Namen des Gesetzes, bleiben Sie stehen!«
Schatten im fahlen Licht der Laterne. Wasser, das aus Pfützen spritzte. Schritte, die sich schnell entfernten. Von wie vielen Personen konnte Edmond nicht ausmachen. Die Geräusche vermischten sich in seinem Kopf zu einem chaotischen Missklang.
Zusammengekrümmt, die Augen geschlossen lag er da und wartete auf den nächsten Schlag. Doch es kam keiner. Ohne noch ein Gefühl für die Zeit zu haben, öffnete er die Lider. Doch die Welt zeigte sich schief und dunkel wie ein Höllenloch.
Verzweifelt suchte er nach einem Anker, einem Haltepunkt für seinen Verstand. Wo war seine Kladde? Nachdem er sie trotz des vernebelten Blicks kaum einen Meter entfernt auszumachen glaubte, streckte er einen Arm aus, um sie zu sich zu ziehen. Doch der Abstand war zu groß. Mühsam robbte er auf der Seite liegend vorwärts. Näher und immer näher heran, bis seine Fingerspitzen das durchweichte Leder berührten.
In dem Moment erklangen erneut Schritte. Zügig kamen sie heran. Edmond kniff die Augen zusammen, um sich totzustellen und weiteren Schlägen zu entgehen. Blind vernahm er, wie das Klacken der Schuhsohlen langsamer wurde und schließlich nah bei ihm verstummte. Jemand stand zwischen ihm und der Laterne und warf seinen Schatten. Edmond konnte die Präsenz des Fremden fast schon körperlich spüren, als er sich über ihn beugte.
»Mister? Hören Sie mich?« Eine Hand griff nach Edmonds immer noch ausgestrecktem Arm und rüttelte ihn leicht. »Mein Name ist Constable Donald Leonard Johnson. Können Sie mich verstehen?«
Edmond schlug die Augen auf und wollte antworten. Doch es kam nur ein unartikulierter Laut aus seiner Kehle. Mühsam drehte er den Kopf und versuchte sich aufzurichten. Scharfer Schmerz brannte in seiner Magengrube und strahlte bis hoch in die Brust aus.
»Halley«, brachte er schließlich immer noch atemlos hervor. »Ich heiße Edmond Halley.«
»Halley, der Astronom und Mathematiker?« Die Stimme des Constable klang überrascht und fast schon ehrerbietig. Offensichtlich gab es doch noch Männer in London, die die Wissenschaft dem Aberglauben vorzogen.
»Genau der«, gab Edmond zurück. Ein Hustenanfall trieb ihm die Tränen in die Augen. Doch soweit er in seinem Schockzustand beurteilen konnte, war er ohne größere körperliche Schäden davongekommen. Lediglich der Schmerz in Leibesmitte erschwerte ihm das Atmen.
Als er endlich saß, zog er sich mit zusammengebissenen Zähnen das Hemd aus der Hose nach oben. Im trüben Licht sah seine Bauchdecke rot, mit einem ins Violette gehenden Schimmer aus. Bei einer massiven Einblutung hätte sich das Bindegewebe wohl schon dunkelschwarz verfärbt.
»Benötigen Sie einen Arzt?«, fragte Johnson.
Edmond winkte ab und streckte ihm anschließend seine Hand entgegen. »Helfen Sie mir lieber auf. Aber langsam.«
Der Constable packte zu und zog Edmond vorsichtig auf die Beine. »Eigentlich war ich auf dem Nachhauseweg und hatte von der Straßenecke Pendelton verdächtige Geräusche gehört.«
»Das war mein Glück«, stellte Edmond immer noch etwas gepresst fest. Vorsichtig richtete er sich in seiner Gänze auf und atmete sacht einmal durch. Dann sah er sich erneut nach seiner Kladde um.
»Leider sind mir die Burschen entwischt. Nach meinem Warnschuss haben die sich sofort davongemacht. Heutzutage ist man nirgends mehr sicher vor diesen Räuberbanden«, merkte Johnson an und hob für Edmond die Tasche auf.
»Oder vor religiösen Fanatikern«, fügte Edmond hinzu.
Der Constable nickte andeutungsweise. Da er Edmond am Namen erkannt hatte, konnte er sich den Rest gewiss denken. »Möchten Sie Anzeige erstatten?«, fragte Johnson nach einer Pause.
Edmond strich seine Kleidung notdürftig glatt. Was würde Isaac ihm raten? Es auf sich beruhen lassen? Keinen weiteren Staub aufwirbeln? Oder in die Offensive gehen? Den Gegnern die Stirn bieten?
Kämpferisch geht der Stier zugrunde , hieß es in einem der Gedichtbände, die sie gemeinsam gelesen hatten. Edmond wollte ein Stier sein. Für die Sache, für die Wissenschaft und für das Ego. Ob das klug war, würde sich später herausstellen.
»Das will ich«, antwortete Edmond ernst.
Der Constable sah wenig erfreut aus. Kein Wunder. Er war ja nicht einmal im Dienst. Wahrscheinlich hielt ihn die ganze Sache vom Abendessen mit der Familie ab. Aber darauf konnte Edmond jetzt keine Rücksicht nehmen. Es gab Kämpfe, die man durch Schweigen und Stillhalten gewann. Durch seine Ausdauer und bloße Anwesenheit. Aber dieser hier brauchte Standfestigkeit und laute Widerworte.
»Ja, ich will Anzeige erstatten«, wiederholte Edmond mit fester Stimme und erhobener Hand. »Das hier war mehr als nur eine Lappalie. Es ging ihnen nicht darum, mir ein paar Schillinge aus der Tasche zu rauben. Sie wollten mich verletzen, ja vielleicht sogar umbringen!«
Constable Donald Leonard Johnson nickte knapp und kramte in seiner Manteltasche. »Natürlich, Sir. Das ist Ihr gutes Recht.«
Edmond verfolgte, wie der Wachmann nun in seiner Innentasche herumsuchte, doch er schien nicht fündig zu werden. Stattdessen ließ er die Hände sinken und sah Edmond das erste Mal direkt an. »In Anbetracht der fortgeschrittenen Uhrzeit und Ihres Zustandes, werden wir die Befragung besser morgen früh durchführen. Wäre Ihnen acht Uhr genehm?«
»Nichts zu schreiben dabei?«, fragte Edmond und drückte die Kladde dabei an seine Brust.
»So ist es«, gab der Constable zu.
»Kann passieren«, kommentierte Edmond und hob müde lächelnd einen Mundwinkel. Ihm gefiel Johnsons Art, nicht um den heißen Brei herum zu reden. Kein langes Geschwafel oder anbiederndes Gerede, um ja nichts Falsches zu sagen oder um sich aus der Verantwortung zu ziehen.
»Acht Uhr also«, erbat der Constable nochmals die Bestätigung. »Ist das hier Ihre Wohnadresse?« Er deutete auf die Eingangstür des Hauses.
»Ich wohne mit meiner Familie in Islington. Dies hier ist nur mein Arbeitsdomizil. Erster Stock. Meine Vermieterin, Mistress Delainy, wird Ihnen aufmachen und den Weg weisen«, sagte Edmond.
Trotz seines von Wut gespeisten Tatendrangs war er genau genommen froh, die Befragungsprozedur nicht noch heute Abend durchstehen zu müssen. Denn mit der wiedergewonnenen Klarheit wurden auch die Schmerzen immer deutlicher spürbar.
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