»I-d-d-dio-t-t-ten!« stotterte Eberhard.
»Jetzt will ich dir mal was sagen!« Hans warf den Kopf zurück. »Wenn du mir hier im Lager einen sagen kannst, der alles besser kann … besser organisieren, und so weiter …«
»Kann ich nicht, Hans, ist doch klar! Und grade deshalb will ich dir ja einen Vorschlag machen!«
Hans ging nicht darauf ein, er starrte Helmuth mißtrauisch an.
»Wir müssen eine Demokratie gründen«, erklärte Helmuth, als wäre das das Selbstverständlichste und Naheliegendste auf der Welt.
»Eine … was?« Karl blieb fast der Mund offen.
»Erklär das bitte näher!« forderte Hans argwöhnisch.
»Ganz einfach … eine Demokratie! Bitte, fragt mich jetzt nicht, was das ist … sonst seid ihr wahrhaftig dümmer, als die Polizei erlaubt! Demos ist griechisch und heißt Volk, und Demokratie ist die Staatsform, in der das Volk regiert!«
»Mensch, meinst du, wir sind blöd!« schrie Günther Furnickel beleidigt.
»Das wissen wir doch auch!« behauptete Klaus.
»Entschuldigt, bitte … ich dachte nur, ihr hättet es im Augenblick vergessen.«
»Du meinst also … alle sollen mitzureden haben?« fragte Hans, nicht gerade begeistert.
»Die Mehrheit soll entscheiden!«
»Mensch, hör mir auf mit der Mehrheit, die ist doch meistens dämlich! Guck dir doch bloß mal unsere Klasse an, Helmuth … das solltest du doch am besten wissen!«
»Trotzdem, Hans! Die Klügeren müssen den anderen eben immer wieder und ganz genau erklären, was geschehen muß und was geschehen kann … was sie wollen, und was ihrer Meinung nach jetzt richtig ist! Und weil sie sich immer wieder vor dem Volk rechtfertigen müssen, weil sie einfach nicht wiedergewählt werden, wenn das Volk ihnen nicht mehr traut, deshalb können sie ihre Macht in einer Demokratie auch nicht mißbrauchen. Darin liegt der Witz! In einer Demokratie kann ja auch nicht einfach eine Gruppe von Leuten oder ein einzelner Mann die Macht an sich reißen … wie du es getan hast, Hans … sondern die Macht muß ihnen von der Mehrheit des Volkes gegeben werden.«
»Na schön«, sagte Hans, »aber ich sehe nicht ein …«
»Jetzt hör aber auf! Über den Wert einer Demokratie brauchen wir uns doch wirklich nicht zu streiten! Nicht nur in Deutschland haben wir eine Demokratie … in allen freien Ländern der Erde überhaupt! Glaubst du, was für die gut ist, sollte für unser lachhaftes Zeltlager nicht richtig sein?«
Hans war jetzt sichtlich beeindruckt. »Von mir aus«, sagte er nach einer nachdenklichen Pause, »aber wie stellst du dir das praktisch vor? Die Lagerdemokratie, meine ich.«
»Anfangen müssen wir natürlich mit Wahlen, mit freien und geheimen Wahlen … wie in der Bundesrepublik! Überhaupt brauchen wir ja alles nur einfach so zu machen, wie es im großen auch gemacht wird! Wir bilden ein Parlament oder einen Bundestag, wie wir es nennen wollen … die stärkste Partei übernimmt die Regierung …«
»Wir haben doch gar keine Parteien!«
»Nicht? Ich meine doch! In den Ansätzen sind sie jedenfalls da … sie müssen nur noch regulär gebildet werden, das ist alles! Du zum Beispiel hast doch trotz allem immer noch eine starke Partei hinter dir, Hans …«
»Meinst du?«
»Aber bestimmt! Wenn du dich ordentlich ranhältst … Wahlreden und so weiter … dann gewinnst du den Wahlkampf todsicher! Dann wirst du Bundeskanzler … oder Lagerkanzler … den Namen müssen wir uns noch überlegen … und dann bist du an der Macht, aber richtig! Von der Mehrheit des Volkes gewählt, verstehst du? Eine ganz große Sache!«
Hans hatte heiße Wangen bekommen, seine blauen Augen strahlten. »Du, das leuchtet mir ein!« rief er. »Bloß … praktisch! Ich weiß nicht, wie das alles praktisch geht. Du sagst, wir machen das einfach so wie in der Bundesrepublik, aber wie das da geht, davon habe ich nicht viel Ahnung … und die anderen bestimmt auch nicht!«
»Deshalb mach dir man keine Sorgen! Da braucht ihr euch doch nur an meine Wenigkeit zu halten, ich hab’ mich nämlich spaßeshalber mit diesen Dingen befaßt …«
»Tatsächlich?«
»Kunststück! Mein Vater ist doch Abgeordneter, da schnappt man eben ’ne Menge auf … und du weißt doch, ich gehe den Dingen immer gerne ein bißchen auf den Grund!« erklärte Helmuth, nicht ohne Selbstgefälligkeit.
Hans war mit seinen Gedanken wieder woanders. »Und du meinst … ich kann durchkommen? Als Lagerkanzler?«
»Na klar! Wenn es dich beruhigt …, ich melde mich hiermit als erstes Mitglied deiner Partei!«
Hans sah Helmuth ein wenig mißtrauisch an. »Na, grade du … du warst bisher doch immer so eine Art …«
»… faules Ei!« ergänzte Karl rasch, duckte sich aber gleich darauf unter dem strafenden Blick von Hans.
»Richtig«, gab Helmuth unumwunden zu, »aber das hat an dir gelegen! Weil du bisher alles andere als ein Demokrat warst, Hans!«
»Muß ich zugeben!«
»Na also! Und nun paß auf … auf eines muß ich dich natürlich aufmerksam machen! Es kann auch trotz allem schiefgehen – nicht mit der Demokratie, das nicht! Aber es ist immerhin nicht ausgeschlossen, daß du den Wahlkampf nicht gewinnst, verstehst du? Daß du in die Opposition gehen mußt! Du mußt mir jetzt versprechen, daß du dich auch dann nicht drückst und dich in den Schmollwinkel zurückziehst. Das wäre ganz und gar undemokratisch, ganz abscheulich wäre das!«
»Ich habe mich noch nie gedrückt, Helmuth, das solltest du wissen!« erklärte Hans heftig. »Und wenn ich einmal etwas angefangen habe, dann führe ich es auch zu Ende – so oder so!«
»Bravo! Ich wußte es ja! Dann können wir wohl anfangen, was?«
Noch am selben Abend versammelten sich alle Lagerteilnehmer, Jungen und Mädchen, in der großen Mulde seitlich des Lagers. Hans hatte seine Trabanten herumgeschickt mit sehr höflichen Einladungen, die Helmuth ihnen einstudiert hatte, und die allgemeine Ratlosigkeit war so groß, daß jeder mit Freuden der Aufforderung zu einer Zusammenkunft Folge leistete – der augenblickliche Zustand war so völlig verworren, daß eine offene Aussprache keinesfalls eine Wendung zum Schlimmeren, höchstens zum Besseren bringen konnte.
Als alle sich niedergelassen hatten, stand als erster Helmuth auf und ergriff das Wort. »Liebe Lagergemeinschaft«, sagte er, »Hans hat euch hier zusammengerufen, um euch einen Vorschlag zu machen, den ich persönlich für ausgezeichnet halte. Ich möchte euch bitten, Hans in Ruhe anzuhören und in Ruhe aussprechen zu lassen. Ihr alle wißt, daß ein Lager nicht bestehen kann ohne eine gewisse Ordnung. Keine menschliche Gemeinschaft kann ohne Ordnung bestehen. Die Arbeiten, die getan werden müssen, müssen vernünftig eingeteilt werden, und einer muß auf den anderen Rücksicht nehmen, sonst kann man nicht von einem Lager, sondern nur von einem Sauhaufen reden. Ihr alle wißt auch, daß Sonntag in vierzehn Tagen verschiedene Eltern zu Besuch kommen, und ich nehme an, ihr seid euch alle darüber klar, was passieren wird, wenn dann hier im Lager alles drunter und drüber geht. Als wir ohne Herrn Doktor Kirst und ohne Fräulein Widemann losfuhren, haben wir alle – jeder einzelne von uns – eine gewisse Verantwortung auf uns genommen, die Verantwortung dafür, daß alles hier klappt … auch ohne Lehrer! Und ich finde, es wäre doch einfach lachhaft, wenn wir das nicht fertigbringen würden!« – Beifallsgemurmel erhob sich. – »So, und jetzt übergebe ich das Wort Hans Helbig!« Helmuth setzte sich und putzte seine Brille.
»Liebe Lagergemeinschaft«, begann Hans. »Ich möchte zuerst betonen, daß der Vorschlag, den ich euch jetzt machen will, nicht von mir stammt. Er kommt von Helmuth! Ich gebe das sofort zu, weil ihr bestimmt auch von selber draufkommen würdet!« – Es wurde wohlwollend gelacht. – »Es handelt sich um folgendes: Helmuth meint, wir sollten versuchen, eine Demokratie zu gründen. Ich für meinen Teil halte das für eine prima Idee! Ich verstehe, ehrlich gestanden, nicht sehr viel von der Sache, aber Helmuth sagt, daß er darüber Bescheid weiß. Wenn Helmuth so was sagt, wissen wir alle, daß es auch stimmt. Unsere Demokratie soll ganz ähnlich aufgebaut werden wie die Bundesrepublik, meint Helmuth. Wir sollen uns in allem die Bundesrepublik zum Beispiel nehmen. Praktisch sieht das so aus, daß wir als erstes aus unseren Reihen Kandidaten für ein Lagerparlament aufstellen wollen. In freien und geheimen Wahlen sollen dann von allen Lagerteilnehmern die Kandidaten gewählt werden, die unser Vertrauen haben. Aus dem Parlament muß dann natürlich immer eine Regierung gebildet werden, und Regierung und Parlament sollen dann zusammen Gesetze und Verordnungen aufstellen, nach denen wir uns richten wollen. Das Parlament ist und bleibt natürlich immer seinen Wählern verantwortlich, und die Regierung immer dem Parlament, so daß keiner Angst haben muß, es geschieht etwas, was er, oder besser gesagt, die Mehrheit der Lagergemeinschaft nicht billigt. Sehr wichtig ist es natürlich, daß sich von Anfang an keiner ausschließt, denn wer nicht mitmacht, ist nur nachher selber der Dumme. In einer Demokratie entscheidet immer die Mehrheit, das heißt, die Minderheit muß sich der Mehrheit fügen. Mir scheint, eine Demokratie ist die beste Regierungsform, die wir uns geben können, denn irgendeine Art von Ordnung muß ja jedenfalls sein, sonst geht es einfach nicht. Das ist der Vorschlag, den ich euch machen wollte!«
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