Sie folgte der breiten Bankette auf der rechten Seite. Autos rauschten vorbei, mit Familie beladen.
Es war noch immer nicht später als Punkt zehn. Sie würde den Pfarrer predigen und die Gemeinde singen hören, während sie über den Friedhof ging.
9.55
Die Kirchenglocke läutet, fern, verschwindend und dann wieder näher kommend.
Da ist ein Flugzeug in der Luft, hoch oben, eine kleine brummende Propellermaschine.
Da sind das Lerchengetriller, die durchdringenden Beunruhigungsschreie des Austernfischers, hoch über den Strandwiesen das jammernde Pfeifen der Brachvögel, der ekstatische Minimotorlärm der Grillen von den Rasenflächen unterhalb der Dünen.
Planschende, schleppende Trägheit, als ein paar Kinder durch den Priel waten, und das Plätschern mischt sich mit all den Zwischentönen und den leisen, interessierten Stimmen, ganz mit sich selbst beschäftigt, während sie südwärts zum Deich wandern.
Das Sausen über den Dünen, die stumme Antwort des Strandroggens, die Sandkörnchen, die rascheln und über den Kragen und den Rücken hinabrieseln, die Spitzen des Strandroggens, die kitzeln und in die Arme stechen, die weißen Fliegen, die von den Ähren herablaufen und sich zwischen den Haaren auf den Armen festsetzen und kribbeln und krabbeln.
Von den Wiesen landeinwärts duftet es schwach, eine Spur Honigduft, eine Spur Kiefernduft und vielleicht eine Spur nach angebrannter Rhabarbergrütze. Nun wird weit weg gerufen.
Er hat reichlich Zeit. Er hält die Augen geschlossen, und Ölseen treiben vorbei, und farbige Zellenwelten bauen sich in seinen Augenschalen auf.
Er redet sich ein, daß er nichts zu tun hat. Er hat hier zu ruhen. Er hat hier in Frieden zu ruhen, bis Inger kommt und ihn zu Mittag holt und ihm behilflich ist, von den Dünen herunterzukommen.
„Peter“, hört er sie sagen, während sie das Gelände am Fuß der Düne absucht, „bist du da oben?“ Und sie hat eine Flasche gefunden, die sie ihm zeigen wird.
9.56
So pflegt sie zu kommen.
Abraham war so wie üblich aufgestanden und hatte am Auto herumgepusselt, mit dem er nie fertig werden kann, nie kann es gut genug werden, und wenn er den Wachsfleck an der linken Vordertür, wo sein Platz ist, weggekriegt hat, ja, dann entdeckt er einen rechts auf der grauen Kühlerhaube.
Ach was, zum Teufel damit.
Er hat schon lange mit einem Vormittagsbier und einem ganzen Apfelbaum über sich dagesessen und auf Edith gewartet, die sich hinter dem vierteiligen Küchenfenster seitlich hin- und herbewegt und Brote schmiert und zusammenlegt, mit reichlich Pergamentpapier dazwischen. Sie kennt ihn.
Auf der Straße kommen sie vorbeigespritzt mit einem Tempo, das weit über der Geschwindigkeitsbegrenzung liegt, aber die Straße hält das wohl aus. Er hat selbst daran mitgebaut, im Schnitt fünfhundert Meter täglich, die Streifen fehlen aber noch, denn die Maler haben den ganzen Monat Urlaub gemacht. Es ist zweifelhaft, ob die Leute genug Charakter haben, auch ohne diese Weisungen zurechtzukommen.
Edith denkt angestrengt nach, ob es auch für sie beide reichen wird, sie bewegt die Lippen, sie redet mit sich selbst, sie zählt und rechnet, sie schlägt sich sogar einmal vor die Stirn und geht zum Küchenschrank und holt ein kleines Sägemesser hervor und schneidet damit Tomaten, schön dünn und schön gezackt.
Hm. Abraham blickt bald zu ihr hin und bald auf den Verkehrsstrom mit all den vielen sonnentrunkenen Gesichtern hinter den offenen Fenstern, die sich einen Augenaufschlag lang in der Einfahrt zwischen den beiden Ahornhecken zeigen.
9.30
„Bist du bald fertig?“ ruft er, er hat keine unangebrachten Zeichen von Geduld von sich gegeben, wohl aber fast eineinhalb Stunden gewartet.
Edith zählt mit einem Finger und blickt zum Übergardinenschal auf und dann zu ihm hinaus und sagt: „Ja, in ungefähr zehn Minuten.“ Auf dem Gasherd hinter ihr dampft es aus einem Topf.
Abraham sieht, daß schon ein Extrapaket fertig ist, ein bißchen unförmig und bucklig.
Edith will also den Hund mithaben. Er liegt mitten auf dem Hof unter dem Bornholmer Vogelbeerbaum und will sich einschmeicheln, schlägt mit dem Schwanz und hat das Maul aufgesperrt und läßt die Zunge heraushängen. Abraham ist der Meinung, daß ein Hund nicht an einen Badestrand gehört. Hunde sind doch keine Menschen. Er kann das nicht leiden, aber er will nichts sagen. Das soll ihnen nicht den Tag verderben. Nur ihm selbst verdirbt es ein bißchen den Tag.
9.35
Er geht hinaus auf die Straße. Da überholt einer sehr schnell und landet dabei fast in der Bankette, im Auto entsteht Panik, und im Wagen, der überholt wird, drohen sie vor Wut, und der Fahrer hupt mehrmals. Aber die Verkehrspolizei ist vormittags nicht allzu rührig. Vielleicht kann sich der Staat das nicht leisten, trotz all der Strafmandate. Solch eine Streife muß sich ja selbst ihr Gehalt verdienen.
Ganz nette Leute, wenn sie all ihr Lederzeug abgelegt haben.
9.45
Nun kommt Edith mit den Schachteln und Körben, der Thermoskanne und den Getränken.
„Ich hab deine Badehose mitgenommen“, sagt sie.
„Willst du denn baden?“ fragt er und sieht sie an.
So was sollte sie lieber bleibenlassen.
„Bei solchem Wetter“, sagt sie, und die Bronchitis rasselt kräftig in ihrem Hals. „Du kommst auch nicht drum rum!“
Er wird sich hüten, darauf zu antworten.
9.50
Und dann fahren sie. Der Hund steht zitternd und schwanzwedelnd auf dem Rückpolster. Edith sitzt in ihrem geblümten Kleid ein bißchen schräg auf dem Vordersitz, und Abraham achtet darauf, daß es nicht zu einer Karambolage mit ihrer linken Brust, ihrem Bauch und ihrem Schenkel kommt, wenn er runter in den dritten Gang oder rauf in den vierten schaltet.
„Es werden viele Leute da sein“, sagt Edith. „Sieh mal, wie sie aus allen Richtungen an der Ampel halten.“
„Wenn wir keinen schönen Platz kriegen, fahren wir wieder, dann können wir auf dem Deich sitzen und essen“, schlägt Abraham vor.
9.55
„Es ist ja genug Platz da“, sagt Edith. „Da fährt der Fischmann, er will raus und den Badegästen am Strand Räucherfisch verkaufen.“
Abraham muß daran denken, daß sie selbst auch dazu gehören, bald.
„Ich pfeif auf den Fisch, den sie draußen am Strand verkaufen“, entgegnet er – vielleicht ein bißchen hitzig.
„Ich könnte mir nach dem Baden ganz gut einen Räucheraal vorstellen“, sagt Edith, die die Hand unter der Wange, ja bis rauf zur Schläfe hat.
10.15
Bald sehen sie über der Insel das Meer, das sich weithin dehnt und so blau ist.
10.05
Biggie hat oben bei den Dünen vorm Hotel das Verdeck seines Wagens heruntergeklappt. Er trägt eine hellblaue Badehose mit weißem Gürtel und ein bauchfreies weißes Polohemd.
Er beobachtet alle, die vom Hotel kommen oder dort hinaufgehen, durch seine Sonnenbrille, in der sich, wenn man ihn ansieht, der große Strand spiegelt.
Da ist so eine Schicke, ganz in Weiß, langer weißer Rock, weiße Bluse und weiße Mütze, sehr braun. Sie entblößt die Zähne und reißt das eine schwarze Auge in Richtung zu ihm auf, und er wird ein bißchen zu eifrig, und sie sieht weg, hält den Körper ein klein wenig schräg, in einer schrägen Achse, so wie die Mannequins, etwas kühl, aber wer weiß.
In der Luft fauchen kleine Modellflugzeuge. Väter und Söhne stehen unten am Strand über winzige Stationen gebeugt und dirigieren. So was kostet gut und gerne ein paar hundert Mark. Hoch über den Dünen stehen Plastedrachen von den Sommerhäuschen weiter landeinwärts. Und gleich nachdem die Kirchenglocke aufgehört hatte zu läuten, war das Motorengeräusch einer einmotorigen Propellermaschine zu hören.
Sein Vater hatte immer von dem Zeppelin von 1934 erzählt, der so tief flog, daß man alle Passagiere sehen konnte, die an den Fenstern standen und zu den wenigen Badegästen herabwinkten, die es damals gab. Ein Propagandaflug.
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