Zuerst hatte ich nur aus Höflichkeit »Ja« gesagt und sie zu mir eingeladen, aber mit der Zeit hatte ich ihre Besuche kaum noch erwarten können. Wenn das Handy klingelte und sie schrieb, sie könne in einer halben Stunde zu mir herüberkommen, stellte ich schon mit Herzklopfen im Hals die Gläser auf das Balkontischchen, dazu Schalen mit Nüssen, Käse und Oliven, klopfte die Pölster aus und entkorkte den Wein. Penelope legte sich dann immer schnurrend auf Evelyns Platz und wartete auf sie. Wenn Evelyn da war, strich Penelope glücklich zwischen unseren Beinen herum, und wir redeten stundenlang in den Sonnenuntergang, lachten und weinten die Dämmerung herbei, manchmal die Nacht. Unser Lieblingsthema waren Träume und Fantasien, und es gelang uns dabei, die Motorengeräusche und das Hupen von der stark befahrenen Kreuzung auszublenden. Mehrmals musste ich das Handy zur Reparatur in den Shop bringen, weil ich es immer am Gerät ausließ, wenn Evelyn mir nicht schrieb oder keine Zeit hatte.
Nachdem Leonardos Rückkehr bekannt geworden war, hatte Evelyn sich nicht mehr gemeldet. Auf meine drängenden SMS hatte sie irgendwann geantwortet, dass ich ja nun wieder ausreichend Gesellschaft hätte und auch keine Ablenkung mehr bräuchte. Vielleicht war Penelope auch deswegen so sauer auf Leonardo, denn sie hatte immer glücklich gewirkt, wenn Evelyn sie zwischen den Ohren gekrault und »Mauz mauz« gesagt hatte. Um sie zu besänftigen, habe ich sie letztens in einen Katzenkorb gepackt und bin mit ihr in die Werkstatt der Künstlerin gefahren. Die Künstlerin hatte zwei Jahre zuvor in einem meiner Kleider geheiratet und danach eine Plastik von Penelope angefertigt, die bereits bei mehreren internationalen Ausstellungen gezeigt wurde und auch in Zukunft noch viele Bewunderer finden wird. Unser Traum wäre, sie dauerhaft in Wien irgendwo im öffentlichen Raum aufzustellen, zum Beispiel bei der Spinnerin am Kreuz. Penelope wirkte zufrieden, als sie ihr Ebenbild betrachtete.
Ich glaube immer noch, dass sich alles einrenken wird. Viele Paare haben nach Jahren des Zusammenlebens eine Krise, warum also nicht auch nach Jahren des Getrenntseins? Ich werde mir einen neuen USP für das Brautmodengeschäft überlegen. Und irgendwann werden wir wieder ganz andere Probleme haben.
Peter Clar
Über den See, über das Wäldchen
für Johanna Taupe
»Im 17. Jahrhundert erzählten sich die Bewohner eines Dörfchens in unmittelbarer Nähe des Faaker Sees, daß der Mittagskogel Gold berge«, liest du, in der Latschacher Pfarrkirche, dem ›Dom vom Rosental‹ (»Rož, Podjuna, Zila, nagelj, rožmarin, v sveti zemlji sniva tvoj slovenski sin« / »Rosental, Jauntal, Gailtal, Nelke, Rosmarin, in der heiligen Erde schläft dein slowenischer Sohn«), in der Kirche deiner Kindheit sitzend und blickst nach vorn, blickst auf den barocken Altar oder auf das Ovalfenster mit gelbem Glas, davor die Taube des Heiligen Geistes, oder nach links zur Kanzel, auf der du noch niemals, auch nicht vor 20, nein, 25, nein, 30 Jahren oder mehr jemanden stehen gesehen hast, wie du überhaupt noch nie jemanden auf der Kanzel einer Kirche stehen gesehen hast. In der Latschacher Pfarrkirche St. Ulrich sitzend liest du weiter (»Es gab daher viele Leute, die es zu gewinnen trachteten und bald da, bald dort Grabungen anstellten, aber immer vergebens.«), liest du von der Magd des Ischnig-Bauern und ihres plötzlichen Reichtums, liest, wie dies den Bauern und den Pfarrer Latschacher (die Sage sagt Latschacher, nicht Leitschacher) stutzig machte und sie beschlossen, dem Geldgeber (1 Dukate pro Übernachtung und Verpflegung), einem Italiener, einem »Welschen«, aufzulauern.
Wie selbstverständlich hast du dich beim Eintreten in die Kirche bekreuzigt, hast du Zeige- und Mittelfinger in das aus der Wand wachsende Weihwasserbecken getaucht, das vor 20, nein, 25, nein, 30 Jahren oder mehr noch zu hoch für dich und deinen Bruder war, so dass deine Mama, so dass deine Oma euch mit ihren Daumen das Kreuz auf die Stirn malten (Geste von Mama wiederholt an deinen ersten Volksschultagen) und dir Stirn, Kinn und Brust bekreuzigten. Wie selbstverständlich hast du dich am Mittelgang – darunter das Grab des Pfarrers Leitschacher, des Erbauers der Pfarrkirche St. Ulrich – rechts gehalten, wie selbstverständlich hast du dich in die sechste oder siebte der rechten Bankreihen gesetzt, wie damals mit deinem Bruder und Opa, deine Mama aber, deine Oma aber immer links, bei den anderen Frauen. Und so sitzt du nun, im Buch Heimat am Mittagskogel und Faaker See die Sage des Pfarrers von Latschach lesend (der Welsche hat, vom Ischnig-Bauern und dem Pfarrer überrascht, diese zu jenem Ort geführt, wo Gold zu finden ist), auf ca. jener Stelle, auf der du früher gesessen, links von dir Opa oder rechts und rechts von ihm dein Bruder oder links, und blickst nach vorn (wie damals) auf den Altar oder auf die Portraits von Johannes und den anderen Evangelisten in halbförmigen Lünetten oder blickst geradeaus, auf die Wand, auf das auf der Wand hängende Bild des gefolterten Jesus, leicht in die Knie gesunken, die Hände hinter dem Rücken gebunden, den Blick leidend nach oben gerichtet (der für uns gegeißelt worden ist). Wie oft hast du gedankenverloren dieses Bild angesehen oder die Fotos und Namen der Gefallenen des Ersten Weltkriegs auf der darunter angebrachten Tafel aus weißem Marmor, während links von dir oder rechts von dir dein Opa (der beste der Welt), während rechts von ihm oder links von ihm dein Bruder, während rund um dich die Kühle der Kirche, die Sonntagsvormittagsmüdigkeit, die Vorfreude auf das Spielen – wir waren unendlich …
Jedes Mal, erinnerst du dich jetzt (der Ischnig-Bauer, der Pfarrer und der Welsche haben mittlerweile eine Vereinbarung geschlossen, das Gold zu teilen), wenn der Messner oder einer der Ministranten mit dem an einer langen Stange befestigten, samtenen Klingelbeutel durch die Reihen ging, hatte dein Opa deinem Bruder und dir je eine 5-Schilling-Münze in die Hand gedrückt, damit ihr diese in den Klingelbeutel werfen konntet, und du erinnerst dich weiter, an den Weg zum Altar, dein Opa hinter dir (oder deine Mama oder deine Oma), eine Hand auf deiner Schulter, das Kreuzzeichen des Pfarrers, der Stolz, als du dann alt genug für die Hostie, und an das sehnlich erwartete ›Gehet hin in Frieden‹ und dann hinaus, in den sonnigen Sommertag, in den Nebelnovember, in den weißen Wintermorgen. Rechts neben der Tafel mit den Namen der Gefallenen, rechts neben dem Bild des gefolterten Jesus (der für uns gekreuzigt worden ist) siehst du nun das Epitaph für den unter dem Mittelgang der Kirche beerdigten Pfarrer Leitschacher, umrahmt von einem vergoldeten Bild des Pfarrers, von Getreideähren, einem Hostienkelch, einer Weinrebe, vor allem aber von einem sich plastisch abhebenden Totenschädel mit Flügeln – »Hic cubat, abreptum defle, tequaeso. Uiator / Ioannes Leitshaher Primus Parochus et / author aedificii« (»Hier ruht, beweine den Entrissenen, darum bitte ich dich, Wanderer, Johannes Leitschacher, der erste Pfarrer und Erbauer dieses Gebäudes«).
Das Geld für den Bau der Kirche, für den Bau des Pfarrhauses, für den Bau der Volksschule habe der Pfarrer sich selbst aus dem am Mittagskogel gefundenen Erz prägen lassen, so erzählt dir die Sage, während du unwillkürlich (wie damals) immer wieder auf den aus der Wand herauswachsenden, geflügelten Totenkopf schaust, auf die lateinische Inschrift schaust (»Quinque decem Numeres ac His / Super addito Quintum / ætatis Numerum Mox libi Crede dabit« / »20 Jahre leitete er die Kirche. Zähle 5 x die 10 und füge zu diesen Zahlen die fünfte, das wird Dir die Lebenszeit geben, glaube es«). Bald aber hätten ihm seine Neider vorgeworfen »daß er auf unehrliche Art reich geworden sei« und ihn vor Gericht gebracht, von dem er, da er die Quelle seines Reichtums nicht preisgeben wollte, zum Tode durch lebendiges Einmauern verurteilt wurde. Und du stehst auf und stehst nun im Mittelgang des Mittelschiffs, darunter das Grab des Pfarrers, und gehst ein paar Schritte nach vorn bis zu exakt jener Stelle, wo vor ein paar Jahren der Sarg deines Opas gestanden ist oder bildest du dir das ein, deine Erinnerungen verschwimmen, während du, das aber weißt du bestimmt, ziemlich genau auf jenem Platz gesessen bist, auf dem du als Kind neben ihm (links oder rechts du, rechts oder links dein Bruder) gesessen warst. Und nun siehst du dich selbst, wie du leer den leeren Worten des Pfarrers zuhörst (irgendetwas vom ewigen Leben), aber siehst dich auch deiner Mama zuhören und erinnerst dich an ihre Rede (unser junger, fescher Vati) und dann doch auch an Tränen (wie heute).
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