Barbara Rieger (Hg.)
Vielleicht war es während der Aufführung von Schnitzlers Liebelei im Theater in der Josefstadt. Meine ehemalige Nachbarin spielte die Mizi und ich erinnerte mich, wie sehr mir Schnitzler früher gefallen hatte. Vielleicht war die Idee auch erst in dem Moment da, als ich sie im Café Phil laut aussprach. Ob er den Reigen mit mir neu schreiben wolle, in Prosa, fragte ich damals Martin Peichl, der mir daraufhin eine kommentierte Fassung des Originals schenkte. Da Monogamie in der Literatur ebenso fragwürdig ist wie im Leben, begann ich vorsichtig, weitere Autorinnen und Autoren zu einem neuen Reigen einzuladen. Es war ein Experiment, ein Weiterschreiben, ein Reagieren auf den Text des Vorgängers / der Vorgängerin, ein Übernehmen der Figuren, ein Bezugnehmen auf Schnitzler. Für mich als Herausgeberin war es eine Überraschung und große Freude, den ersten, den zweiten, den dritten Text zu lesen und zu erleben, wie sich ein neuer Reigen entfaltete, wie der Reigen von Gertraud Klemm, Gustav Ernst, Daniel Wisser, Bettina Balàka, Michael Stavarič, Angela Lehner, Martin Peichl, Thomas Stangl und Petra Ganglbauer neu aufgeladen wurde. Bezüge zum Original können Sie im Vorwort von Daniela Strigl nachlesen und anhand des abgedruckten Textes selbst herstellen.
Ich wünsche ein großes Lesevergnügen und danke den Autorinnen und Autoren für ihr Mitmachen.
Barbara Rieger
Daniela Strigl
Vorwort
Gertraud Klemm
Leonie & Josh
Gustav Ernst
Indien
Daniel Wisser
Die Kellnerin und der nervöse Chef
Bettina Balàka
In nördlichen Wäldern
Michael Stavarič
Anna & Herbert: Die junge Frau und der Ehemann
Angela Lehner
Der Idiot und das Baby
Martin Peichl
Wie viele Raben
Barbara Rieger
Der Dichter, die Schauspielerin & ein abgegriffener Mond
Thomas Stangl
Parallelen im Unendlichen. Die Schauspielerin und der Erbe mit Magistertitel
Petra Ganglbauer
Kardamom
Arthur Schnitzler
Reigen
Autor*innen
„Überhaupt gerade die Sachen, von denen am meisten g’redt wird, giebt’s nicht … z. B. Liebe … Das ist auch so ’was.“
Arthur Schnitzler: Reigen
Daniela Strigl
VORWORT
BEISCHLAFGESCHICHTEN ODER EIN NEUER KODEX DER INTIMITÄT
„Geschrieben hab ich den ganzen Winter über nichts als eine Szenenreihe, die vollkommen undruckbar ist, literarisch auch nicht viel heißt, aber nach ein paar hundert Jahren ausgegraben, einen Teil unserer Kultur eigentümlich beleuchten würde“, berichtet Schnitzler im Februar 1897 seiner Geliebten Olga Waissnix. Als er das Stück drei Jahre später in einer Auflage von 200 Exemplaren als Privatdruck für Freunde herausbringt, hält er eine Publikation der Szenen immer noch für „vorläufig ausgeschlossen“, hat aber eine höhere Meinung von deren literarischem Wert: „Ich glaube, ihr Wert liegt anderswo als darin, daß ihr Inhalt den geltenden Begriffen nach die Veröffentlichung zu verbieten scheint.“
Inzwischen sind zwar nicht „ein paar hundert“ Jahre seit dem ersten Druck vergangen, aber immerhin 120. Die reguläre Veröffentlichung erfolgte 1903, die Berliner Uraufführung 1920, vor genau hundert Jahren. „Ausgegraben“ musste der „Reigen“ nicht erst werden, Schnitzlers erfolgreichstes Theaterstück erfreut sich ungebrochener Popularität. Zweifellos eingetroffen ist indes die Prophezeiung des Autors, es würde „einen Teil“ der Kultur des Wiener Fin de Siècle „eigentümlich beleuchten“. Die erotische und sexuelle Praxis der k. u. k. Haupt- und Residenzstadt in einem Querschnitt durch die sozialen Schichten und topographischen Gelegenheiten, von der Uferböschung des Donaukanals bis zum Ehebett im gutbürgerlichen Schlafgemach, offenbart sich als Kultur der Lüge. Der rhetorische Aufwand, mit dem diese jeweils inszeniert und das Triebgeschehen bemäntelt wird, richtet sich nach der gesellschaftlichen Stellung der Frau. Im Zentrum des Kultus steht die bis in seine zwielichtigen Randbezirke ausstrahlende Heiligkeit der Ehe als Treuebündnis, dessen moralische Verpflichtung nur für den einen Teil gilt. Dem Idealbild der „anständigen Frau“ entspricht keines des „anständigen Mannes“, das Pendant des „gefallenen Mädchens“ ist der junge Herr mit Erfahrung. Oder wie Marie von Ebner-Eschenbach es ausdrückt: „Die Unschuld des Mannes heißt Ehre. Die Ehre der Frau heißt Unschuld.“
Wenn zehn heute Schreibende den Tanz wagen und sich auf einen neuen „Reigen“ einlassen, kann es nicht darum gehen, Schnitzlers dramatischen Coup zu übertrumpfen, sondern die Parameter der Versuchsanordnung auf die amourösen Angelegenheiten der Gegenwart anzuwenden. Wie ist das heute mit der verstellten und unverstellten Begierde? Wer hat es nötig, von Liebe zu sprechen, wenn er oder sie Sex meint? Oder zumindest ein persönliches Interesse vorzutäuschen? Inwiefern sind Verhältnisse Machtverhältnisse? Wie steht es um das Selbstbewusstsein der Frauen?
Auch „Reigen Reloaded“ beschränkt sich auf gegengeschlechtliche Konstellationen, die Klassengrenzen scheinen jedoch durchlässiger: Die Kellnerin ist Studienabbrecherin und als Geschäftsführerin immerhin vorstellbar. Bei Schnitzler reicht sozusagen eine Figur der nächsten die Hand, wobei der Kontakt sich nicht auf die Handreichung beschränkt; in der zehnstimmigen Neuauflage ist die Choreographie naturgemäß weniger streng, auch hat nur die Eingangsszene eine dramatische Form, in den anderen Dialogen wird für die Erzählung beziehungsweise den inneren Monolog bald die weibliche, bald die männliche Perspektive gewählt, bald mittendrin gewechselt. Entstanden ist der neue „Reigen“ nach dem Fortsetzungsprinzip – nach einem Monat war die Stafette weiterzureichen.
Die Figuren in Schnitzlers „Reigen“ haben keine Namen. Das heißt, die meisten haben zwar Namen, sie heißen Franz und Marie, Karl und Emma, Alfred und Robert, das Personenverzeichnis führt sie aber als Typen, als „Die Dirne“, „Der Soldat“, „Das Stubenmädchen“, „Der junge Herr“ und so weiter. Die programmatische Namenlosigkeit nimmt ihnen ihre Individualität und führt den Reigen des Begehrens als Wiederkehr des Ewiggleichen vor, zugleich treten sie stellvertretend für eine soziale Klasse, ein Milieu, einen Phänotypus („Das süße Mädel“) auf. Wo der Name im Dialog fällt, bürgt er nicht für Identität – das Stubenmädchen Marie wird vom Soldaten Kathi genannt, das süße Mädel geht mit einem Herrn, dessen Namen sie nicht kennt, ins Chambre séparée, weil er sie an ihren Ex-Bräutigam erinnert, und als er ihr seinen Namen verrät, Karl, stellt sich heraus, dass sein Vorgänger ebenso hieß. Überhaupt widerlegt die Häufung von allerlei Doppelungen jede Vorstellung von Einzigartigkeit. Der Dichter Robert wiederum enthüllt dem süßen Mädel, dass er kein anderer als der berühmte Biebitz – mit einem Anklang an Schnitzler – sei oder sich jedenfalls so nenne, aber dieses hat noch nie von ihm gehört. Und die Schauspielerin, die die ganze Zeit von einem Fritz schwärmt, nennt den Dichter „Frosch“, was der sich verbittet: „Dichter: Ich hab’ doch einen Namen: Robert. Schauspielerin: Ach, das ist zu dumm. Dichter: Ich bitte dich aber, mich einfach so zu nennen, wie ich heiße.“ Der Auslöschung des Namens entspricht die – bald erwünschte, bald gefürchtete – Auslöschung der Person: „Stubenmädchen: .... Ich kann dein G’sicht gar nicht sehn. Soldat: A was – G’sicht .....“ Die Einzige, die einen nicht gewöhnlichen Namen ihr Eigen nennt, ist ausgerechnet die Dirne, sie heißt, nach einer Märtyrerin, Leocadia: die gefallene Löwin.
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