Hans Herbjörnsrud - Die Brunnen

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Hans Herbjørnsrud erzählt in seinem Roman fünf Geschichten über die Magie des Alltäglichen, die gekennzeichnet von Leidenschaft, Visionen und merkwürdigen Begegnungen die Grenze zwischen Realität und Phantasie zu verwischen vermögen. -

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Hans Herbjørnsrud

Die Brunnen

Erzählungen

Aus dem Norwegischen von

Ulrich Sonnenberg

Saga

Während die Zeit läuft

Es eilt. Mir läuft die Zeit davon. Ich muss mich sputen. Ich stehe im Morgengrauen auf, ziehe den rot melierten Laufdress und die neuen Cross-Schuhe an, esse am Küchentisch zwei Scheiben Knäckebrot und trinke ein Glas Orangensaft, bevor ich den ovalen Joggingstein in die rechte Hand nehme und über den Hofplatz trabe; um 6:04:13 laufe ich den Traktorweg über das Feld auf den Wald zu.

Ich muss mich beeilen, um diese Geschichte zu schreiben. Ich muss bald hier raus. Heute Abend kommen meine Schwiegertochter Ting Ting und mein Enkel Man Lok zu Besuch. Anna wird sie um 20:45 Uhr am Busbahnhof abholen, sie sollen hier in meinem Arbeitszimmer im Backhaus wohnen. Bis sie kommen, muss meine Geschichte fertig sein. Es eilt. Ich muss raus. Die Zeit ist knapp. Ich laufe und schreibe und laufe.

6:04:53, die Uhr zeigt 6:04:53, ich biege von der Treckerspur ab, hebe beide Arme vors Gesicht und kämpfe mich durch das dichte Fichtengehölz hinunter zu dem Bach. An der Böschung vor dem Biberdamm bleibe ich einen Augenblick stehen, verschnaufe und beiße mir auf die Zungenspitze.

Es eilt. Mir bleibt doch nur der heutige Tag für meine Geschichte. Ich habe am Telefon gehört, dass Man Lok inzwischen ein Zweibeiner geworden ist und in Oslo über den Fußboden wackelt. Sie müssen den Hörer auf den Boden gelegt haben, denn die taumeligen Schritte unseres Enkelkindes dröhnten mir direkt ins Ohr. Es eilt, ich breite die Arme aus und balanciere vorsichtig über den Biberdamm; über dem blanken Wasserspiegel des Weihers, den Joggingstein in der geballten Faust und mit gespreizten Fingern über dem Durcheinander aus Zweigen und Ästen am Fuß der Böschung. Bei jedem meiner Schritte zeigen sich leichte Wellen auf dem reglosen Wasser des Tümpels. Der schwere Joggingstein in meiner Faust hält mich aufrecht.

Dann bin ich auf der anderen Seite und laufe den Pfad durch den Erlenwald bis zur Heddøla. 6:06:13, ich folge dem Weg flussaufwärts und laufe jetzt immer schneller, obwohl der Fluss reißender wird und ich gegen den Strom laufe. Mou, keiwai und gwei, murmele ich. Sie haben mir erzählt, dass Man Lok ein chinesisches Bilderbuch bekommen hat und die Wörter seiner Eltern nachzuahmen versucht, während er sich die Bilder ansieht. Er kann bereits drei Wörter Chinesisch, haben sie gesagt und mir erklärt, mou bedeutet niemand, keiwai heißt merkwürdig und gwei ist ein Gespenst.

Gegen den Strom zu laufen ist wie gegen den Wind zu laufen, ich verkürze die Schrittlänge, laufe an den Pfosten vorbei, die von der alten Hängebrücke noch stehen, und um 6:08:05 hüpfe ich von Stein zu Stein über die Mündung eines rieselnden Bachs und springe auf die breite Kiesbank, die sich entlang der Heddøla bis Grenehølen erstreckt. Mou, keiwai, gwei: Ich murmele ein Wort bei jedem Schritt, den ich auf den Kies setze: niemand, merkwürdig, Gespenst. Die Luft spült mir den Mund, der Kies knirscht und brennt unter den Füßen, und in meinen Ohren höre ich die durchdringenden Schritte von Man Lok auf dem Fußboden in Oslo. Schnell, es eilt, Man Lok entwickelt sich zu einem prächtigen Burschen, haben sie gesagt. Mou, keiwai und gwei, murmele ich wie eine Beschwörungsformel, wobei die Wörter unter den Schuhsohlen knirschen, und hetze im Gegenwind des Stromes vorwärts.

6:11:42, bei Grenehølen drehe ich um, nehme den Joggingstein in die linke Hand und laufe mit der Strömung zurück. Der Fluss fletscht die Zähne und schnappt nach den Steinen, während er rasch über den Grund fließt, der Strom wirbelt schneller als die Zeit, unmöglich, mit ihm Schritt zu halten. Trotzdem ist es einfacher, im Sog des Flusses zu laufen, ich gehe in lange Schritte über, berühre den Boden nur kurz mit den Ballen und drücke die Beine durch, dass es in den Kniekehlen zieht. Das Wasser schießt an mir, der ich laufe, vorbei und zieht mich mit, und schon bald gerate ich in einen paradiesischen Rausch und laufe Hand in Hand mit der fließenden Zeit.

6:17:47 wache ich auf und sehe auf die Uhr. Ich stehe auf der Böschung vor dem Biberdamm. Schwarzglänzend liegt der aufgestaute Fluss vor mir, er ist über die Ufer getreten. Der Biber hat einen Fluss gefangen. Der Strom rennt gegen den Damm an. Mittendrin ragt ein entrindeter Espenast aus dem Lehm. Knochigweiß leuchtet der Ast und zittert unter dem Druck, zittert. Ich beiße mir auf die Zungenspitze, breite die Arme aus und tänzele über den Damm. Mou, keiwai und gwei: Bei jedem Schritt flüstere ich ein Wort, und die Worte lassen das aufgehaltene Wasser unter meinen Füßen vibrieren.

Dann bin ich auf der anderen Seite und werde durch das Fichtengehölz gepeitscht, gelange auf die Treckerspur und lasse mich vom Schlussspurt aufsaugen, wobei die Beine wie bei einem Tausendfüßler unter mir wirbeln. Um 6:18:15 stehe ich wieder auf dem Hof, atme aus und schaue auf die Uhr.

Ich setze Kaffee auf, bevor ich mich umziehe und ein paar Scheiben Brot esse. Dann schmiere ich mir Pausenbrote und fülle die größte Thermoskanne. 6:36:58. Anna ist noch nicht aufgestanden, als ich mit Proviant und Kaffee für den ganzen Tag hinüber ins Backhaus gehe, die Gardinen im Arbeitszimmer zuziehe und den Computer einschalte. Um 6:39:44 beginne ich, an meiner Geschichte zu schreiben.

Es drängt, und damit die Zeit mir nicht davonläuft, fange ich an, die Joggingtour, die gerade hinter mir liegt, herunterzutippen. Es beginnt daher mit der Atemlosigkeit, denn nur acht Minuten, nachdem ich aufgestanden bin, bin ich über den Hofplatz getrabt und auf dem Traktorweg auf den Wald zugelaufen. Ich laufe und schreibe und laufe, und bei jedem Schritt hüpft ein Buchstabe auf den weißen Bildschirm, wie ein Fußabdruck im Neuschnee. Als ich im Morgengrauen lief, war das Gras zwischen den Reifenspuren grün. Jetzt, nur eine halbe Stunde später, laufe ich in einer anderen Jahreszeit über schneebedeckte Felder, und im Fichtengehölz bürsten die Bäume den eben auf mich herabgerieselten Schnee ab.

Die Böschung, ich bleibe an der Böschung stehen, schnappe nach Luft, beiße mir auf die Zungenspitze und schaue über den schwarzen Wasserspiegel zwischen den weißen Ufern. Der Damm glänzt eisig. Der entrindete Espenast in der Mitte ragt glasig in die Luft. Es eilt, und ich breite die Arme aus und tänzele über den Rand des blockierten Stromes. Mou, kei...

... waiiiiiiiiii!, schreie ich, als ich in das fremde Wort strauchele und der Joggingstein ins Wasser fällt. Einen Augenblick schwanke ich und rudere mit den Armen. Dann verliere ich das Gleichgewicht, taumele seitwärts und falle der Länge nach in den Weiher. Der Aufprall schlägt weiße Funken auf der schwarzen Oberfläche, das Wasser trifft mich wie der Stoß einer Hochspannungsleitung, der sämtliche Sinne betäubt. Als ich endlich wieder zu mir komme, spüre ich, wie ich in einen Brunnen ohne Grund sinke, versinke.

Milder, nach und nach wird die Dunkelheit um mich herum milder, bald ist es tropisch heiß, und ich höre schlurfende Schritte um mich herum. Es kommt jemand, jemand ist in dieser blinden Dunkelheit, in die ich hineinfalle, unterwegs. Die Luft ist voller erstickter Atemzüge. Vorhänge rascheln. Zeltbahnen flattern im Wind. Holzgefäße klappern. Tiere stampfen. Tief in der Dunkelheit höre ich ein Geräusch wie von einem Teppichklopfer oder Stockschlägen auf Fell und Knochen. Hat da gerade ein Esel geschrien, oder war es ein Kamel, das ebenso klingt? Ich weiß es nicht. Wo bin ich? Wann bin ich? Dumpfe, wie mit Erde bedeckte Stimmen flüstern Worte, die ich weder begreife noch verstehe. Jemand streicht mir sanft über die Stirn. Ich liege stumm auf einem Lager aus Dunkelheit, das hinunter ins Dunkle sinkt, und höre schleppende Schritte und Stimmen, die eifrig tuscheln.

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