5. März 1941:
Friedrich Wilhelm Ritt erkundigt sich bei einem alten Korpsbruder, z. Zt. Abteilungsleiter im Reichssicherheitshauptamt, Berlin, Prinz-Albrecht-Straße, ob ihm ein Frederic Panetzky, Zürich, usw. bekannt sei.
6. März 1941:
Gaufachschaftsleiter Egon Silbermann teilt »dem alten Kameraden Ritt« auf Anfrage mit, daß die Juden Kahn, Vater, Mutter, Sohn und Tochter zur Zeit in einem Arbeitslager auf ihren Transport in den Osten warteten, der spätestens in einigen Wochen erfolge. »Zwar habe ich seit meiner Rückkehr von der Frontbewährung mit diesen SD-Aktionen nichts mehr zu tun, aber ich könnte immerhin aufgrund alter Beziehungen unter Umständen eingreifen. Wenn Du mir also rechtzeitig mitteilst, was mit diesen Juden geschehen soll, werde ich versuchen, Deine Wünsche entsprechend berücksichtigen zu lassen.«
7. März 1941:
Sturmbannführer K. vom RSHA teilt Friedrich Wilhelm Ritt »streng vertraulich« mit, daß es sich bei Fritz Panetzky um einen Rein-Arier handle, der zur Zeit der k. u. k. Monarchie in Lemberg geboren wurde, es aber 1918 abgelehnt habe, Pole zu werden. »Später schlug sich der Mann als Staatenloser nach Deutschland durch und stellte ein Gesuch auf Einbürgerung. Bei der Überprüfung dieses Antrages kam er mit einer Dienststelle in Berührung, die ich im Reichsinteresse selbst Dir gegenüber nicht näher benennen kann. Panetzky übersiedelte dann nach Zürich, und gründete dort eine Firma; er hat sich offensichtlich bei vielen Aufträgen sehr bewährt. Obwohl er vom Endsieg des Führers überzeugt ist, würde ich ihm mit einer gewissen Vorsicht begegnen.«
9. März 1941:
Aktennotiz über eine Auslandsreise in die Schweiz:
»Sodann teilte ich Panetzky bei einer persönlichen Unterredung mit, daß ich mich für die Auswanderung der mir persönlich bekannten Familie Kahn verwenden würde, falls Pg. Silbermann von der Gauleitung keine Bedenken äußere und das Reich die für seinen Schicksalskampf so nötigen Devisen erhielte. Ich schlug vor, daß die amerikanischen Verwandten der Juden pro Kopf der Auswanderer fünfundzwanzigtausend Dollar, insgesamt also hunderttausend Dollar, hinterlegen sollten, die später auf noch festzulegende Weise der Deutschen Reichsbank …«
2. April 1941:
Panetzky läßt in einem Brief aus Zürich wissen, daß die amerikanischen Verwandten der Kahns mit der Abwicklung »der Sache« zwar grundsätzlich einverstanden seien, aber angeblich hunderttausend Dollar nicht aufbringen könnten und die Hälfte dieser Summe vorschlügen, die sofort überwiesen würde. »Trotzdem erscheint mir dieser Betrag zu gering, zumal ich weiß, daß es sich bei den Verwandten um steinreiche Leute handelt. Um die Aktion selbst nicht durch ein langes Gefeilsche zu gefährden, schlage ich vor, einen der vier Juden – möglichst nicht die Mutter, da es sich bei ihr um die direkte Verwandte der Amerikaner handelt – mit dem nächsten Transport nach dem Osten zu verschicken. Ich bin ganz sicher, daß dann das Geld, und zwar die volle Summe, sofort auf den Tisch kommen wird, wenn man den Leuten in Übersee glaubhaft klarmacht, (vielleicht durch einen Abschiedsbrief oder dergleichen), in welcher Gefahr jüdische Parasiten heutzutage in Deutschland schweben.«
3. April 1941:
Handschriftliche Notiz von Friedrich Wilhelm Ritt: »Ich kann die von Panetzky vorgeschlagene Maßnahme nicht gutheißen und distanziere mich hiermit von dem ganzen Auswandererplan. Selbst wenn ich bedenke, daß es sich bei den Kahns um Menschen handelt, die zu den natürlichen Feinden unseres Volkes gehören, möchte ich doch aus rein menschlichen Gründen eine solche Härte …«
4. April 1941:
»Lieber Kamerad Ritt, … ich bin absolut mit Dir einer Meinung, daß wir uns an Panetzkys Plan in Sachen Kahn nicht beteiligen können. Selbst wenn es mir gelänge, meine rein humanen Argumente auszuschalten, könnte ich schon aus technischen Gründen bei einem solchen Vorhaben gar nicht mitwirken. Als Leiter der Rechtsabteilung beim Gauleiter habe ich mit den Judentransporten glücklicherweise nichts zu tun. Stets zu Deinen Diensten! Dein Egon Silbermann.«
Martin war auf der vorletzten Seite der Akte, die wohl ebenso ein Alibi für Menschenhändler wie eine Kapitalanlage für die Zukunft sein sollte. Und schon bevor er umblätterte, wußte er, wie es weitergehen würde.
Seine Augen brannten. Er sah nach draußen, wunderte sich, daß es nicht regnete, sondern die Sonne schien. Er wandte sich wieder der Vergangenheit zu: dem Vater als Lieferanten, Panetzky als Zwischenhändler, Silbermann als Prokuristen – und den Kahns als Handelsware, deren Preis durch Verminderung des Angebots von vier auf drei hochgehalten werden sollte.
Es war still im Raum. Martin hörte seinen eigenen Atem. Wer, fragte er sich, wer? Der alte Kahn, der nur für seine Firma und seine Familie gelebt hatte? Jakob, der Sohn, der niemals jung gewesen war? Lydia, das lustige Tennismädchen?
Wer von den vier hatte für das Lösegeld der anderen drei sterben müssen, für den Tausch: Geld gegen Blut?
Während Martin das Blatt wendete, schienen Bälle gegen seinen Kopf zu fliegen, harte, schnelle weiße Tennisbälle: Schmetterbälle, Flugbälle, Matchbälle. Aufschlag – Treffer. Vorhand – Treffer. Rückhand – Treffer. Treffer. Treffer …
Martin zog den Kopf tief in die Schultern und las:
2. Juni 1941:
Panetzky teilt dem Reichstagsabgeordneten Ritt der Ordnung halber mit, daß die Affäre Kahn erledigt sei. Vater, Mutter und Tochter wären inzwischen nach Portugal weitergefahren, um von dort per Schiff nach Amerika zu reisen. »Trotz aller Beziehungen hat es sich leider nicht verhindern lassen, daß der Sohn Jakob nach Polen geschafft wurde; über sein weiteres Schicksal ist nichts bekanntgeworden. Zwar erreichte auf sehr dubiosen Schleichwegen ein Abschiedsbrief seine Verwandten in Philadelphia; es handelte sich dabei jedoch vermutlich um eine Fälschung.
Die volle Summe wurde rechtzeitig hinterlegt und steht nach Abzug meiner Provision in Höhe eines Drittels zwecks weiterer Veranlassung zur Verfügung.
Sicherheitshalber darf ich noch einmal dringend auf unsere Vereinbarung hinweisen, daß alle Unterlagen dieser Sache schon im Reichsinteresse zu vernichten sind.«
Also Jakob, dachte Martin, stand auf, schloß die Akte, sah das Kleiderbündel, das er sich zurechtgelegt hatte, fegte es mit der Hand vom Tisch. Er wollte das Jagdhaus verlassen, dachte dann an den US-Colonel, seinen unbekannten Gastgeber, hängte die Anzüge wieder in den Schrank, warf die Hemden hinterher, stieg durch das Fenster und schloß die Läden.
Der rundliche Fahrer schlief im Jeep. Er hatte die Beine auf das Steuerrad gelegt und den Kopf auf die Knie gestützt. Sein Gesicht träumte auf einer üppigen Badeschönheit der Stars and Stripes . Der Mann hörte Martin kommen, fuhr benommen hoch, lächelte leer und stand auf.
»Can I help you?« fragte er mit schläfriger Stimme.
» Thank you.« Martin winkte ab.
Der GI sah, daß Martin nichts in der Hand hielt als einen Schnellhefter, und fragte:
»That’s all?«
»Das ist alles.«
Sie rollten nach Frankfurt zurück. Vor dem IG-Farben-Hochhaus setzte ihn der Fahrer ab. Martin bedankte sich. Der Soldat grüßte flüchtig. Martin griff mechanisch in die Tasche, stieß auf das Geldbündel, reichte es dem GI, der verwundert und beleidigt den Kopf schüttelte.
Martin schleuderte das Geld in den Jeep und ging mit raschen Schritten in das Haus.
» Nuts!« rief ihm der Fahrer nach, tippte sich mit dem Zeigefinger an die Stirn und sammelte die Papierscheine ein.
Der Major mit dem schmalen klugen Pferdekopf hatte Martin schon erwartet, stand auf und begrüßte ihn lebhaft.
»Felix hat angerufen«, sagte er, »es ist alles okay, er schickt Ihnen morgen einen Wagen, und Sie können sofort nach München übersiedeln.«
Читать дальше