Als im 18. Jahrhundert die französische Revolution ihren blutigen Anfang genommen hatte, hatte sie nicht nur ein paar nachwachsende alte Zöpfe abgeschnitten, sondern ihr Programm und ihre Hoffnung für die Welt knapp und prägnant in drei übersichtlichen und leicht verständlichen Worten formuliert: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. An die Verwirklichung des ersten Punktes, der Freiheit, hat sie sich auch gleich ohne Zögern gemacht, zumindest auf der äußerlichen Ebene, denn das schien der drängendste und einfachste Punkt zu sein. Die Gleichheit hat sie dann per Verordnung, einem Mittel der Unfreiheit, verfügt und nie richtig durchsetzen können, was sicherlich auch an der oberflächlichen Deutung des Begriffs der Gleichheit lag, denn auf dieser oberflächlichen Ebene gibt es keine Gleichheit; es gibt nur eine uniformierende Gleichbehandlung. Und die Brüderlichkeit war ohnehin nie mehr als ein pathetisches und poetisches Element, ein abstraktes Konzept von etwas, das sich durch die Verwirklichung von Freiheit und Gleichheit wie von selbst einstellen müsste. Die Brüderlichkeit war immer das Stiefkind der Revolution, weshalb diese auch so blutig verlaufen ist. Die Revolution wäre damals erfolgreicher verlaufen, wenn mehr Gewicht auf die Brüderlichkeit gelegt worden wäre, oder die drei Bestandteile zumindest als gleichwertig angesehen worden wären.
Heute ist die Welt komplexer geworden, und es scheint so, als könnte man mit diesem Schlachtruf von einst nichts mehr bewegen, geschweige denn eine Erneuerung in der Lage der Welt und des Politikverständnisses anzetteln. Dabei wären diese drei Bestandteile des Mottos der französischen Revolution durchaus geeignet, die Probleme der heutigen Welt zu bewältigen, wenn man sie nur richtig verstehen würde. Statt dessen stellt sich die Frage, wie lange die Menschen, die bisher nur leicht unzufrieden alles hingenommen haben, die immer unhaltbarer werdenden Zustände auf dieser Welt und die Verantwortungslosigkeit der Politik und der sie betreibenden Politiker noch tatenlos mitansehen werden. Die Welt schreit jedenfalls lauter als je zuvor nach umfassenden und durchgreifenden Änderungen, nicht nach unverbindlichen Verlautbarungen und einem weiteren Wust an Zusatzparagrafen. Mit den Mitteln der gegenwärtigen Politik und dem damit zusammenhängenden Politikverständnis sowie mit dem grassierenden Imperialismus scheint dies allerdings kaum machbar.
Wir brauchen dafür eine neue Revolution. Und diese neue Revolution muss durchaus nicht so ablaufen, wie die französische vor einem viertel Jahrtausend, obwohl ein solcher Verlauf natürlich auch möglich ist. Und wie damals liegt dieser Verlauf auch heute nicht nur in der Hand der aufbegehrenden und unzufriedenen Masse, sondern auch ganz wesentlich in der Hand der herrschenden Kaste. Der Impuls, der Wunsch nach Veränderung ist da, und durch Verständnis, Erkenntnis und Zusammenarbeit kann man diesem Impuls eine Form und einen Elan geben, der ihn zu einer machtvollen und tiefgreifenden Revolution Aller für Alle macht statt zur Revolution Vieler gegen Einige. Noch ist Zeit, wirkliche Veränderungen in Gang zu bringen, aber die Uhr tickt bereits.
Die Revolution damals hat das Konzept der Demokratie in Erinnerung gerufen und die Errichtung demokratischer Strukturen gefördert und gefestigt. Das war sicherlich ein Erfolg, aber was ihre eigenen Ideale anging, so hat sie versagt. Waren die Ideale also falsch oder ungeeignet als Mittel der Politik? Das mag wohl so den Anschein haben, aber die Menschen damals sind letztlich an dem gleichen Problem gescheitert wie die angewandte Atomphysik oder die moderne Industrie. Der Macht im einen wie dem Wissen im anderen Fall stand einfach ein ungenügendes Bewusstsein gegenüber. Wenn man sich auf ein wildes Pferd setzt, um es zu zähmen, so braucht man dazu Kraft und Können; wem diese Fähigkeiten abgehen, dem geht im besten Fall das Pferd durch, im schlimmsten Fall war es das letzte, was er in seinem Leben gemacht hat. Und darum haben wir jetzt abgeworfene Atombomben, ein riesiges Arsenal von Nuklearsprengköpfen auf aller Welt, verstrahlte Landstriche, Umweltverschmutzung, eine Klimakatastrophe, und innerhalb von vielleicht fünfzig Jahren haben wir Unmengen an unermüdlich vor sich hin strahlenden Atommüll angesammelt, der unsere Nachfahren auch in 100.000 Jahren noch unangenehm an uns erinnern wird, wenn es denn dann noch Nachfahren von uns geben wird.
Aber mit welchem Werkzeug soll die Politik uns nun aus der Klemme helfen? Was ist die wirkliche Aufgabe der Politik? Wie sieht das Selbstverständnis der Politik idealerweise aus? Lag die französische Revolution, die ja die Mutter der modernen Politik ist, mit ihrem Motto wirklich so daneben?
Versuchen wir zur Klärung dieser Fragen doch mal herauszufinden, wie man die Ideale der französischen Revolution denn heute interpretieren könnte.
Da hätten wir zuerst einmal die Freiheit. Damals bedeutete Freiheit ganz klar die Abschaffung aristokratischer Willkür und der Form von Sklaverei, die sich Leibeigenschaft nannte. Heute würden die meisten Menschen Freiheit dahingehend interpretieren, machen zu können was man will oder zumindest im Wesentlichen selbst über das eigene Leben bestimmen zu können, was dazu führt, dass für viele Menschen Geld und Besitz zum Inbegriff von Freiheit geworden sind. Freiheit in Form von Bewegungsfreiheit und Selbstbestimmung sind in den meisten Industrieländern ein fast selbstverständlicher Anspruch. Aber ist es tatsächlich so einfach, und ist es damit schon getan? Wie sieht es mit der Freiheit aus, wenn die Freiheit des Einen die des Anderen beschränkt (eine nie versiegende Quelle zunehmender Nachbarschaftskonflikte)? Offensichtlich ist Freiheit in der Form unbegrenzter Freizügigkeit kein verlässlicher Bestandteil der Politik, denn um jedem ein gewisses Maß an Freiheiten zu gewähren, müssen die Freiheiten auch für alle beschränkt werden. Und schon haben wir unser stetig komplizierter werdendes Netz an Geboten und Verboten, an Regeln und Gesetzen. Dabei sollte man doch eigentlich meinen, dass Freiheit ein einfacher und leicht verständlicher Begriff sei, den jeder verstehen und anwenden kann. Aber dem stehen verschiedene Faktoren gegenüber: Egoismus, Einfühlungsvermögen, Verständnis von Zusammenhängen, Einsichtsfähigkeit... Das sind einige Punkte, von denen das Ausmaß der Freiheit abhängig ist, das der Einzelne für sich beanspruchen kann.
Nun gibt es zwei, genaugenommen sogar drei Möglichkeiten, mit denen man zu individueller Freiheit gelangen kann: das Rechtswesen, die Verständnisfähigkeit und die Entdeckung innerer Freiheit.
Das Rechtswesen bietet ein fragiles Gleichgewicht, indem es versucht, zwischen dem Recht der Gemeinschaft und dem Individuum wie auch zwischen den Individuen zu vermitteln. Die so vermittelte Freiheit ist sehr grob, weil sie sehr pauschal ist und, wie schon erwähnt, immer wieder neue Unfreiheiten oder Ungerechtigkeiten auftauchen, die zu einer stetigen Nachbesserung, Verfeinerung und damit auch Kompliziertheit führen und dem Einzelnen nicht die für seine individuelle Entwicklung vielleicht nötige größere Freiheit einräumen können.
Mit der Verständnisfähigkeit ist es schwieriger und einfacher zugleich. Sie ist im Grunde genommen eine Form der Bewusstseinsentfaltung, ein Wachsen von Erkenntnis. Dabei geht es nicht um eine Vermehrung schulischen Wissens, sondern um ein stetig zunehmendes, vorurteilsfreies Verständnis nicht nur des menschlichen Seins. Es geht darum, dass der Mensch ein bewusstes Wesen wird, das die Dinge nicht einfach nur als gott- und justizgegeben hinnimmt, sondern sie zu verstehen sucht, das die Interdependenz zwischen ihm, anderen Individuen, der menschlichen kleinen und großen Gemeinschaft und die Abhängigkeiten von und in der Natur nicht als Herausforderung, sich durchzusetzen begreift, sondern als Teil eines Zusammenspiels, als Einladung zur Teilnahme am universalen Tanz. Der Mensch muss seinen Platz in der Welt entdecken und bei maximaler innerer Entfaltung Teil des Miteinanders in der großen Gemeinschaft werden, statt weiterhin seine egoistische Ich-Will-Haltung zu kultivieren. Freiheit ist dann keine rücksichtslose Freiheit mehr, die von Gesetzen abgesichert ist, sondern die Freiheit, die man sich und anderen als natürliche Selbstverständlichkeit zugesteht, die Freiheit, die aus Anteilnahme, Harmonie und Verständnis entsteht.
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