Es war ein ziemlicher Schock für ihn gewesen, als er damals heimkam und den Zettel fand. »Ich verlasse dich, du Schwein«, stand darauf. »Ich will dich nie mehr Wiedersehen.« Und das alles nur, weil er ihr ein paar gelangt hatte, am Abend zuvor. Er konnte es einfach nicht ausstehen, wenn sie sich betrank und dann in Lokalen große Reden führte, ihre Show abzog. Nun, die ersten Tage hatte er gewartet, daß sie zurückkäme, sicher. Dann kam dieser Telefonanruf aus der Schweiz, sie war wieder betrunken und beschimpfte ihn wie ein Marktweib. Er hatte aufgehängt und war weggegangen, es war nach Mitternacht. Das war vier Monate her.
Die Verkehrsampel war auf Rot, und er mußte stehenbleiben. Automatisch betrachtete er eine hübsche Blondine in einem enganliegenden Kostüm, die aus einem Friseurladen kam. Und zum tausendsten Male in den letzten vier Monaten dachte er an Simone.
Es wurde grün, und er ging weiter.
Vor dem Kommissariat stand der Streifenwagen. Die Blaulichter waren eingeschaltet. Marcel sah den Inspektor Matisse aus dem Haustor rennen, auf den Wagen zu. Matisse lief niemals ohne Grund. So rannte Marcel über die Straße, ohne lange zu überlegen, ein paar Autos bremsten kreischend, und wütende Fahrer bellten ihm nach. Der Streifenwagen startete schon, als Matisse noch eine Tür aufriß. Marcel ließ sich auf den Hintersitz fallen. Die Sirenen heulten, und der Fahrer schaltete in den dritten Gang.
»Toni le Boche«, sagte Matisse. »Pierre hat ihn gegriffen, im ›Rumba‹. Die Sau hat Pierre getupft. Funkstreife ist unterwegs.« Getupft. Das hieß, daß Inspektor Jezek gestochen wurde. Dieser Toni arbeitete nur mit einem Springmesser und wurde immer verrückter dabei. »Schlimm?« fragte Marcel.
Matisse zuckte die Schultern. Er nahm seine Pistole aus dem Halfter und lud sie durch. Marcel nahm sie ihm wortlos aus der Hand. Dann bremste der Wagen und hielt vor dem »Rumba«. Ein paar Dutzend Leute vor dem Eingang. Im Laufen sah Marcel, daß die Funkstreife noch nicht da war.
In der Bar war ein Tisch umgestürzt, und Glasscherben lagen am Boden. Jezek kniete vor einem Hocker, hielt mit zwei Händen seine Pistole, seine Ellbogen waren auf der Hockerlehne aufgestützt. An der Wand lehnte Toni le Boche, seine Perücke lag am Boden, und er hielt die Hände über dem Kopf. Seine Augen flackerten, und Marcel sah in einer Sekunde, daß er unverletzt war, irrsinnig vor Wut und Angst und auf dem Sprung zu flüchten. Er bemerkte gleichzeitig die große Blutlache, in der Jezek kniete und wie seine Hände mit der Pistole zitterten.
»Schon gut, Pierre«, sagte Marcel und richtete die Pistole auf Toni. »Schon gut.« Er sah, wie sich Inspektor Jezek zusammensinken ließ, und dann hörte er das Plumpsen seiner Pistole auf dem Holzboden. »Toni«, sagte er, »beweg dich, und du hast sechs Löcher im Bauch.«
Aus den Augenwinkeln sah er Matisse neben ihm auf den Mann zugehen. »Umdrehen, Toni«, befahl er. Dann hörte er die Sirenen der Funkstreife. Zögernd drehte sich der Mann zur Wand. Seine Augen zuckten zum Boden, den Bruchteil einer Sekunde nur, aber Marcel sah das blutverschmierte Messer und schlug zu, mit der Pistole und aller Kraft gegen diesen kahlen Schädel.
»Chef«, hörte er Matisse sagen, der sich sofort auf den fallenden Toni stürzte. Dann waren auch schon die uniformierten Polizisten der Funkstreife im Raum.
Marcel gab ein paar Anweisungen und kniete dann neben Inspektor Jezek. Sachte hob er Jezeks Kopf auf seinen Unterarm. »Die Ambulanz muß gleich da sein«, hörte er jemanden sagen. Fast zärtlich knöpfte Marcel Jezeks Jacke und Weste auf. Er sah den Einstich an der rechten Brustseite, aber die Blutung hatte fast aufgehört. Hoffentlich ist es nicht die Leber, dachte er.
Den Toni le Boche hatten sie hinausgebracht, und plötzlich war Matisse neben Marcel. »Die Pistole«, sagte er. Marcel deutete auf seine Rocktasche, und Matisse nahm sie sich heraus. Der Lauf war blutverschmiert.
Jezek stöhnte leise, er hielt die Augen geschlossen. »Matisse«, sagte Marcel, »ich fahr’ mit der Ambulanz. Mach du das hier weiter.« Matisse kniete sich neben die beiden, tippte Marcel auf die Schulter und deutete auf das Messer, das immer noch am Boden lag. Marcel wußte, was er meinte. Die Klinge war blutverschmiert bis zum Heft. »Das Schwein hat zugestoßen wie ein Irrer«, hörte er Matisse neben seinem Ohr flüstern.
Auf der Fahrt ins Krankenhaus öffnete Jezek die Augen. Er erkannte Marcel, der neben ihm saß. »Meine Frau«, hörte Marcel ihn flüstern. »Mach dir keine Sorgen, Alter«, sagte Marcel. »Mach dir keine Sorgen, mit deiner Frau rede ich noch heute. Wir bringen dich durch, und alles wird wieder gut. Streng dich jetzt nicht an, mach dir keine Sorgen.« Er sah, wie Pierre Jezek die Augen wieder schloß und lächelte.
Die Operation hatte eine gute Stunde gedauert. »Wenn alles gut geht«, hatte der Chefarzt gesagt, »wird er es überstehen. Wenn keine Komplikationen eintreten«, hatte er eingeschränkt. Marcel Trudeau hatte fast ununterbrochen geraucht im Wartezimmer. Ihm war ein wenig übel, aber immerhin war das eine gute Nachricht. Als er die Treppe hinunterging, begegnete er einer Frau, sie war etwa dreißig, grell geschminkt, aber nicht unhübsch. Einer plötzlichen Eingebung folgend blieb er stehen: »Frau Jezek?« Sie war es. Der Chefinspektor berichtete ihr kurz, er versuchte, optimistisch zu sein und zu verharmlosen. »Nein«, sagte er, »keine Lebensgefahr. Sie können ihn jetzt nicht sprechen nach der Operation. Vielleicht morgen oder übermorgen.« Etwa eine Woche nicht, hatte der Chefarzt gemeint.
Die Frau ging mit ihm hinunter. »Dann kann ich hier nichts ausrichten«, meinte sie. Sie sprach breitesten Vorstadtdialekt. »Das hat er jetzt davon, der alte Trottel«, sagte sie, »ich hab’ immer gesagt, er soll sich nicht zerreißen für das scheißbißchen Geld, was die Polizei zahlt. Das hat er jetzt davon!«
Marcel wollte eigentlich einige tröstende, aufmunternde Worte sagen, aber er sah ein, es wäre falsch am Platz gewesen.
»Kann ich Sie irgendwohin bringen«, fragte er auf der Straße. Er hatte vor, ein Taxi zu nehmen. »Danke, ich bin in Begleitung«, sagte die Frau. Sie ging auf einen Renault-Sportwagen zu, in dem ein junger Mann saß und rauchte.
»Armer Pierre«, sagte Marcel leise. Er nahm den Autobus.
»Immerhin«, sagte der Bezirkskommissar, »immerhin hat der Mann einen Stirnbeinbruch und eine schwere Gehirnerschütterung. Der Wirt sagt aus, das Messer hätte auf dem Boden gelegen. Dieser Toni war also unbewaffnet bei der Festnahme.«
»Drei Minuten vorher«, sagte der Chefinspektor müde, »hat er unseren Jezek schwer verletzt.«
»Das war eben vorher«, sagte der Kommissar. »Als Sie in den Raum kamen, war er unbewaffnet und hielt die Hände hoch. Auch er ist jetzt schwer verletzt, noch nicht einmal vernehmungsfähig.«
Marcel zuckte mit den Schultern. »Mir blutet das Herz«, meinte er. Der Kommissar und der Chefinspektor waren allein im Zimmer. Vom Gang hörte man Schritte und Stimmen. Eine Pressekonferenz war einberufen worden, sie sollte in fünf Minuten beginnen. »Ich will ihnen doch helfen, Chefinspektor«, sagte der Kommissar. »Wie wollen Sie rechtfertigen, einen unbewaffneten Menschen zusammengeschlagen zu haben?« Marcel sah aus dem Fenster. »Hundsvieh«, sagte er, »Hundsvieh nannten Sie ihn, als wir das letzte Mal über Toni le Boche sprachen. Jetzt sagen Sie Mensch. Einen waffenlosen Menschen.« »Herrgott«, fauchte der Kommissar, »seien Sie doch nicht gleich so …« »Er bückte sich nach dem Messer«, unterbrach Marcel. »Was?« »Er bückte sich nach dem Messer. Er wollte es aufheben. Er war in Panik und hatte gehofft, Jezek wird umkippen, bevor wir kommen. Als er die Sirenen der Funkstreife hörte, drehte er durch. Er wollte sein Springmesser aufheben.« »Das ginge«, meinte der Kommissar leise.
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