Er zog sich an, auch seinen Mantel, griff in die Tasche und legte ein paar Scheine auf den Tisch. »Danke, Helen«, sagte er. »Darf ich wiederkommen?« »Das ist zu viel«, sagte Helen und deutete auf das Geld. »Natürlich sollst du wiederkommen.« Sie wußte, daß es nicht lange dauern würde. Es waren fast hundert Dollar, die da auf dem Tisch lagen. Der Verdienst einer Woche, in guten Zeiten.
Chefinspektor Marcel Trudeau war jetzt fast fünfzig und davon dreißig Jahre bei der Polizei, man sah es ihm an. Seit vier Monaten waren alle seine Untergebenen oder Mitarbeiter, sogar sein Chef, sehr nett und rücksichtsvoll zu ihm. Alle wußten, daß ihn seine Frau verlassen hatte. Obwohl er selber zu niemanden darüber sprach. Und wenn er jetzt manchmal unrasiert und mit einem nicht ganz frischen Hemd im Büro erschien, machte niemand Bemerkungen darüber. Die meisten seiner Inspektoren waren vor zwei Jahren bei seiner Hochzeit gewesen, sie kannten Simone, seine Frau. Und alle hatten ja schon damals gewußt, daß das nicht gut gehen würde. Der Altersunterschied war zu groß, und auch ein Chefinspektor vom Format Trudeaus verdiente bei der Pariser Polizei schließlich kein Vermögen. Man konnte es Simone ja ansehen, daß sie nicht nur hübsch, sondern auch teuer war.
Als Trudeau an diesem Morgen ins Büro kam, mit einer Stunde Verspätung und einer fleckigen Krawatte, stellte seine Sekretärin sofort das Kaffeewasser auf. Das kurze »bon jour« hatte ihr genügt, sie hatte seine verschwollenen Augen und den leicht schwankenden Gang wohl bemerkt. In der letzten Stunde hatte sie alle Anrufe entgegengenommen, tapfer für ihn gelogen und den Anschein verbreitet, der Chefinspektor sei bei einer wichtigen Besprechung oder so. Kaffee zu kochen war alles, was sie noch tun konnte. Schließlich war sie nicht mit ihm verheiratet und hatte, weiß Gott, auch andere Sorgen.
Als sie ihm den Kaffee hinstellte, ohne Milch und Zucker, rieb sich Marcel seine geröteten Augen und nickte dankbar. »Ist was?« fragte er, und seine Stimme war heiser und kaum zu hören. »Der übliche Kram«, meinte die Sekretärin. »Aber der Direktor erwartet ihren Rückruf.« Marcel blickte fragend. »Seit einer Stunde«, ergänzte sie.
Der Chefinspektor nippte an dem heißen Kaffee. Menschen, die schon um acht Uhr früh telefonierten, waren ihm in der Seele zuwider. »Verbinde mich in fünf Minuten«, sagte er. Die Sekretärin ging. »Danke«, sagte er noch, als sie schon unter der Tür war, aber das hörte sie gar nicht mehr. Er war mit dem Kaffee noch nicht fertig, als das Gespräch kam. Der Direktor wollte wissen, was er gegen die letzten Serieneinbrüche in parkende Autos unternommen habe. Marcel war nahe daran zu sagen: »Nichts!«, aber er beherrschte sich, brummte herum, daß er in dem Fall noch nicht klar sehen könne. Die Sache scheine ihm dringend, mehrere Diplomaten wären unter den Geschädigten, hatte der Direktor noch gesagt, bevor er das Gespräch beendete. Das waren Dinge, die der Chefinspektor ohnedies wußte.
Marcel Trudeau war unruhig, nervös und wußte nicht recht, warum. Es war ein Tag wie jeder andere auf dem Kommissariat, gar nichts Besonderes, und trotzdem hatte er das Gefühl, es müßte jeden Moment etwas Außergewöhnliches passieren. Er erinnerte sich an seinem verstorbenen Vater, der sehr sensibel war und auch immer Vorahnungen hatte. Nun, sein Vater war ein alter Mann gewesen, und es fiel Marcel auch ein, wie sehr er sich deswegen über den alten Herrn immer lustig gemacht hatte.
Marcel hatte weder mehr noch weniger getrunken als üblicherweise in den letzten Wochen, vom Alkohol konnte diese innere Unrast also nicht kommen. Er rauchte ein bißchen mehr als sonst, wenn das überhaupt möglich war, und ärgerte sich über sich selbst. Die Sache mit Toni le Boche konnte die Ursache auch nicht sein, wenn ihm das ganze Theater um Toni auch ziemlich unter die Haut ging. Schließlich kam es öfter und nicht nur in Paris vor, daß man einen bezirksbekannten Strolch einfach nicht fangen konnte. Die Zeitungen waren voll davon, als ob es nichts Wichtigeres auf der Welt gäbe, und vom Präsidium fragte man jeden Tag an, wie die Fahndung voranginge. Als ob es einzig und allein an Marcel Trudeau gelegen hätte, den Fall abzuschließen!
Das Telefon läutete. Die alte Fuchtel von Chefsekretärin teilte ihm mit, daß der Herr Distriktskommissar mit ihm reden wolle. Marcel wurde wütend und bellte, er habe im Moment keine Zeit, in einer halben Stunde werde er rüberkommen. Er zündete sich eine Zigarette an, sah, daß seine vorige Zigarette im Aschenbecher noch rauchte und wurde noch zorniger. Natürlich hatte der Kommissar weise Ratschläge in der Sache Toni le Boche auf Lager, und auf die konnte Marcel weiß Gott verzichten. Er stand auf und ging in dem kleinen Dienstraum auf und ab, am liebsten hätte er eine Fensterscheibe eingeschlagen oder sonst etwas zertrümmert.
Es klopfte, und bevor er »herein« sagen konnte, kam die weibliche Kriminalbeamtin. Sie wollte einige Unterschriften, und der Chefinspektor unterschrieb, ohne die Akten richtig anzuschauen. Die alte Kriminalbeamtin hatte nach seiner Meinung ohnehin mehr Verstand unter dem Rock als so mancher Polizeijurist unter seinem Hut, und die Sachen gingen sicher in Ordnung.
»Schlechte Laune, Chef?«, wollte die Inspektorin wissen, und Marcel machte nur eine Handbewegung, weil ihm gerade kein ordinärer Fluch einfiel, der passend gewesen wäre.
Es wurde noch dunkler im Zimmer, und plötzlich prasselte Regen gegen die dreckigen Fensterscheiben. Es war schon Ende November, und in der Früh hatte Marcel Schnee von den Windschutzscheiben wischen müssen. Grauen, nassen Schnee, und seine Ärmel waren schmutzig davon geworden.
Inspektor Jezek wäre wahrscheinlich der einzige gewesen, der Toni le Boche im Handumdrehen hätte greifen können, denn Pierre Jezek war dreißig Jahre im Bezirk und kannte jeden Winkel und jeden Ganoven von Kindheit her. Aber Jezek hatte vor einem Jahr eine Kellnerin geheiratet, die um zwanzig Jahre jünger war, und seitdem war er kaum zu gebrauchen. Marcel hatte Verständnis für ihn. Trotzdem nahm er sich vor, mit dem Jezek einmal zu reden, denn abgesehen von dem Toni le Boche Fall ging das mit dem Jezek so einfach nicht mehr weiter.
Auf seinem Schreibtisch in einem Aktenkorb lag eine Menge Papier. Der Chefinspektor sollte das alles heute noch lesen, und jedesmal, wenn er daran vorbeiging, sah er den Aktenberg finster an. Obenauf lag eine Nachricht, daß er sich baldigst im Präsidium bei einem Kommissar Frère einfinden möge. Das Wort »baldigst« war unterstrichen. Marcel kannte keinen Kommissar Frère und wußte nicht einmal, in welcher Abteilung der arbeitete. Er blätterte kurz im Personalstandsverzeichnis, fand den Frère und daneben den Vermerk »Personalabteilung« und die Telefonklappe. Er rief an und erfuhr, der Kommissar wäre im Moment nicht zugegen. Nein, die Sekretärin konnte auch nicht sagen, worum es sich handle. Marcel warf den Hörer auf die Gabel, natürlich wußte dieser Trampel, worum es sich handelte, Sekretärinnen wissen meist mehr als der Chef. Auf dem nächsten Akt sah er die Unterschrift von Inspektor Jezek und begann zu lesen.
Es war ein Bericht über eine Serie von Autoeinbrüchen, insgesamt fünfzehn, ein sogenannter »Nega«, ein Erhebungsbericht mit negativem Resultat also, und Inspektor Jezek hatte alles fein säuberlich heruntergetippt, nur keine Spur von den Tätern gefunden. Marcel überflog die beigelegten Anzeigen der Sicherheitswache und fand heraus, daß Jezek außer ein paar Telefonanrufen nichts unternommen hatte.
»Zweckdienliche Hinweise auf den Täter«, hatte Jezek geschrieben, »konnten nicht in Erfahrung gebracht werden.« Marcel ging ins Journalzimmer, der Gruppenleiter wußte angeblich nicht, wo Jezek war, und schaute ein wenig betreten. »Zwei Journalisten sind seit einer Stunde beim Kommissar«, sagte er, um abzulenken.
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