»Wieso interessiert Sie das?«
»Es ist nur … eigentlich geht es mich ja nichts an … aber ich finde, daß man so etwas nicht unterstützen sollte!«
»Was meinen Sie mit … so etwas?«
»Nun, es ist doch eine Schande, wie leichtsinnig diese jungen Dinger heutzutage sind. Fünfzehn Jahre! In dem Alter hätten wir an Liebe noch nicht einmal gedacht. Und dann, wenn sie ihren Spaß gehabt haben und etwas passiert ist … dann bloß weg mit dem Kind! Nur keine Verantwortung tragen. Finden Sie das etwa richtig?«
Dr. Schumann mußte sich ein Lächeln verkneifen. Offensichtlich lag hier nichts anderes vor als ein gewisser Geschlechtsneid der ältlichen, verblühten Frau gegenüber der blutjungen Angelika. Er sah jedoch Schwester Ruth ernst in die Augen und antwortete: »Nein, absolut nicht. Ich finde es sogar sehr traurig. Wir Ärzte sind aber schließlich nicht dazu da, gute und schlechte Zensuren für das Betragen unserer Patienten auszuteilen. Unsere Aufgabe ist es einzig und allein, zu helfen.«
»Ja, aber …«
»Liebe Schwester Ruth!« unterbrach Dr. Schumann sie ungeduldig und jetzt doch ein wenig erzürnt, »überlassen Sie die Entscheidung bitte mir, was zu geschehen hat. Sie sind für meine Anordnungen nicht verantwortlich und haben auch kein Recht, ein Urteil darüber zu fällen. Im übrigen ist es ja noch gar nicht heraus, ob ich den Eingriff vornehme. Ich wünsche nur, daß alles für den Notfall vorbereitet wird und daß ich benachrichtigt werde, wenn sich der Zustand der Patientin verschlechtert. Haben Sie mich verstanden?«
»Jawohl, Herr Oberarzt!« antwortete die Schwester pikiert. Sie war ganz blaß geworden. Beleidigt, mit bösem und verbissenem Gesicht, rauschte sie von dannen.
Tatsächlich befand sich Dr. Schumann in einem quälenden inneren Konflikt. Medizinisch gesehen, war es ein Risiko, einen beginnenden Abort zu behandeln und die Schwangerschaft zu erhalten, ganz abgesehen von dem erforderlichen Aufwand an pflegerischen Maßnahmen. Andererseits widerstrebte es ihm zutiefst, das Leben eines Kindes im Mutterleib zu vernichten, wenn eine auch nur geringe Chance bestand. Eine Chance indessen, die wesentlich vom Verhalten der Mutter abhing. Nur wenn die junge Patientin mitmachte, wenn sie genau den Anweisungen der Ärzte und Schwestern folgte, unendliche Geduld aufbrachte und den festen Willen hatte, das Kind unter allen Umständen zur Welt zu bringen, war an einen möglichen Erfolg zu denken. Gerade dieser Wille aber fehlte bei der Fünfzehnjährigen ohne Zweifel vollkommen. Gab es überhaupt noch einen Weg, ihre negative Anschauung zu überwinden?
Selbst wenn Angelika, dachte er, längere Zeit hier in der Klinik bliebe, selbst wenn es gelänge, sie unter Kontrolle zu halten und die Fehlgeburt zu verhindern – würde sie nicht, entlassen und zu Hause sich selbst ausgeliefert, die gleiche Wahnsinnstat erneut begehen? Könnte sie nicht sogar ihre Drohung wahr machen und den Freitod wählen? Was konnte er ihr sagen, um sie davon abzuhalten? Ging das nicht über seine Kraft? Und würde nicht das unerwünschte Kind wirklich eine Katastrophe für dieses junge Mädchen bedeuten und sie völlig aus der Bahn werfen? Ja, wenn die Familie intakt wäre; wenn die Mutter ihrer frühreifen und doch noch so kindlichen Tochter ein Halt sein könnte – dann sähe die Sache vielleicht anders aus.
Dr. Schumann seufzte tief. Er dachte an den Eid des Hippokrates, den er wie jeder Arzt geschworen hatte und der ihn verpflichtete, für das Leben einzutreten, es zu erhalten, niemals zu vernichten. Aber würde er nicht in Angelikas Fall, wenn er zögerte, um das Kind zu retten – würde er dann nicht zwei Menschen auf dem Gewissen haben: das Ungeborene und die blutjunge Mutter?
Von Unruhe getrieben, ging er schon kurze Zeit später zu dem Zimmer, in dem Angelika lag. Schwester Gisa, noch jung und voller Mitgefühl, kam eben heraus.
»Das arme Ding!« flüsterte die Schwester, als Dr. Schumann nach dem Befinden der Patientin fragte. »Sie kann nicht schlafen. Immer nur weint und stöhnt sie. Ich habe fast die ganze Zeit an ihrem Bett gesessen. Man muß Angst haben, daß sie aus dem Fenster springt oder sonst etwas Unvernünftiges tut. Sie jammert ständig, daß sie nicht mehr leben will.
»Haben Sie ihr keine Beruhigungsmittel gegeben?«
»Doch. Mehr als ich auf meiner Liste hatte. Aber zuviel wagte ich natürlich auch nicht. Oder hätte ich …?«
»Nein!« Dr. Schumann öffnete die Tür und trat an Angelikas Bett. Die Kleine sah noch bejammernswerter aus als bei ihrer Einlieferung. Ihr rotblondes Haar war schweißverklebt, ihr Gesichtchen wirkte spitz und blaß, tiefe Schatten lagen unter den Augen.
»Na, Angelika«, sagte er betont munter, »ich hatte doch versprochen, dich zu besuchen …«
Sie antwortete nicht.
Dr. Schumann schlug die Bettdecke zurück und stellte fest, daß die Blutung eher stärker geworden war. Nachdenklich blickte er auf das Bündel Elend. Es war, als kämpfe er noch einmal einen schweren Kampf mit sich. Dann raffte er sich zu einem Entschluß auf: »Lassen Sie die Patientin zur Ausräumung fertig machen, Schwester!«
Angelika rührte sich nicht. Sie war so erschöpft und apathisch, daß sie nicht einmal begriff, was diese Anordnung für sie bedeutete.
Als Dr. Schumann in den Operationsraum trat, hatte der Anästhesist mit der Narkose begonnen. Die Beine der Patientin waren hochgelagert, ihr Körper mit sterilen Tüchern abgedeckt.
Der Chirurg wartete auf das Zeichen des Anästhesisten, dann hakte er den Uterus an, zog ihn nach vorn, weitete schnell den Muttermund mit Dehnstiften, um Zugang zu schaffen. Schwester Selma reichte ihm die Kürette. Er begann mit der Ausschabung.
Plötzlich kollabierte die Patientin. Ein Kreislaufschock!
»Verdammt!« entfuhr es Dr. Schumann. »Adrenalin! Schnell!«
Zorn auf sich selber und sein Zögern erfüllte ihn. Hätte er schon früher operiert, wäre dies gewiß nicht geschehen. Der Anästhesist machte Druckbeatmung mit Sauerstoff, Dr. Schumann injizierte Adrenalin in das Herz. Kurz darauf wurde der Puls wieder tastbar und zusehends fester. Dr. Schumann atmete auf und beendete den Eingriff.
Langsam, quälend langsam schwand die leichenhafte Blässe aus den Wangen Angelikas. Ein leichtes, zartes Rosa schimmerte durch ihre Haut. Ihr Atem wurde tiefer …
Später, als Angelika erwacht war, ging Dr. Schumann noch einmal zu ihr. Sie lächelte ihn zaghaft an.
»Na, siehst du«, sagte er beruhigend, »jetzt haben wir alles überstanden! Eine Woche mußt du noch bei uns bleiben, dann darfst du wieder zu deiner Mutter nach Hause.«
»Und ich werde nicht … angezeigt?« flüsterte Angelika.
»Nein«, erwiderte er, »wie kommst du darauf? Wir sind doch keine Polizeispitzel. Aber eines mußt du mir ganz fest versprechen …«
»Herr Doktor«, unterbrach ihn Angelika, »Sie glauben doch nicht, daß ich so etwas noch einmal machen würde?«
»Unter ›so etwas‹ verstehe ich aber auch das andere, Angelika! Du bist noch viel zu jung, um dich mit einem Mann einzulassen.«
»Er war ja mein Freund«, sagte sie leise.
»Ein feiner Freund, der dich in eine solche Situation gebracht hat. Versprichst du mir, mit ihm Schluß zu machen? Es kann wirklich zu nichts Gutem führen, Angelika!«
»Ja, ich weiß«, gab sie zu, »bloß … ich bin immer so viel allein.«
»Darüber werde ich mit deiner Mutter sprechen. Aber von dir verlange ich, daß du dir ganz fest vornimmst, mit der Liebe zu warten, bis du erwachsen bist.«
»Ja«, sagte Angelika, »ja …«
»Hand darauf?«
»Ja.« Sie reichte ihm ihre schmale, ein wenig feuchte Mädchenhand, sah ihn aus tränengroßen Augen an. Erst jetzt wurde es Dr. Schumann bewußt, daß sie mit ihrem rotblonden Haar, der zarten Haut und den leuchtendblauen Augen ein ungewöhnlich anziehendes junges Mädchen war.
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