[…] do not overload a sermon with too much matter. | Lectures to my Students, 80
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Wisse, wie man Pausen macht.
Schätzungsweise dreitausend Predigten hat Charles gehalten. Viele von ihnen wurden verschriftlicht und gedruckt. So lebendig sie heute auch noch sind, so wenig vermögen sie freilich das ganze Talent von Charles einzufangen. Denken wir etwa an seine Stimmlage, seinen Tonfall oder auch die Reaktionen des Publikums. Das alles erzählen uns die Niederschriften nicht. Umso wichtiger sind deshalb seine Äußerungen zu dem, was die Predigtsammlungen verschweigen. Dies betrifft etwa die Kunst, Pausen einzulegen. Ganz offensichtlich waren Pausen für ihn kein Nebenschauplatz. Pausen wirken in der Predigt nämlich wie Satzzeichen. Sie verstärken die Frage und erhöhen die Aussagekraft. Sie signalisieren auch, dass der Predigende nachdenkt, um Worte oder mit seinen Gefühlen ringt. Wer hin und wieder pausiert, wird schnell merken, dass er die Aufmerksamkeit wie ein Magnet an sich zieht. Das ist kein Theater, sondern schlicht und einfach ein wichtiger Teil der menschlichen Kommunikation.
Know how to pause; Make a point of interjecting arousing parentheses of quietude. | Lectures to my Students, 153
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Nach Gottes Gnade ist Sauerstoff das Wichtigste.
Hier haben wir ein typisches Spurgeon-Zitat! Einerseits betont er darin die unaufhebbare Rolle des göttlichen Mitwirkens bei der Predigt. Andererseits unterstreicht er aber auch den Wert des menschlichen Vermögens. Denn im 19. Jahrhundert gab es noch keine Zentralheizungen, die für angenehme Temperaturen im Gottesdienst sorgten. Also hielt man nur allzu gern die Fenster geschlossen, um das bisschen Wärme festzuhalten. Das wiederum hatte zur Folge, dass die Luft oft verbraucht war. In solcher Atmosphäre ließ sich beim besten Willen nichts erreichen. Darum plädierte Charles immer für das großzügige Öffnen der Fenster. Er war überzeugt: Wenn Menschen glauben sollen, müssen sie vorher auch wach sein. Diese Binsenweisheit lässt sich ohne Weiteres auf unsere Zeit übertragen. Gottesdienstliche Räume benötigen Mindestvoraussetzungen an Temperatur, Akustik, Mobiliar und Technik. Sind sie nicht gegeben, dann wird es auch für den besten Prediger sehr schwierig.
The next best thing to the grace of God for a preacher is oxygen. | Lectures to my Students, 138
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Es gibt in der Bibel kein Gebot, das lautet: Du sollst nicht lachen.
Ähnlich wie im wilhelminischen Deutschland herrschte im viktorianischen England ein konservatives Klima vor. Schaut man sich heute Porträts von Queen Victoria und anderen Repräsentanten des Staates an, so sehen sie in aller Regel ziemlich steif und nüchtern aus. Diese Stimmung prägte wiederum auch die kirchliche Kultur. Wo man auch Gottesdienste besuchte, erblickte man ernste und feierliche Prediger. Das bedeutet natürlich nicht, dass damals alle Menschen ständig so dreinschauten. Es war vielmehr der als ideal empfundene Gesichtsausdruck für kirchliche Veranstaltungen. Mit diesem Ideal brach Charles sehr wirksam. Er schmunzelte, er lächelte, er lachte und er erzählte viele Witze. Er wusste, dass die Menschen Heiterkeit unendlich mehr schätzten als trockene Sachlichkeit. Aber Heiterkeit war bei Charles mehr als eine persönliche Gabe, sie war ein Ausdruck seines Glaubens. Für Prediger und Predigerinnen ist Heiterkeit darum eine ernste Angelegenheit.
There is no commandment in the Bible, which says ›Thou shalt not laugh.‹ | Magoon, The modern Whitfield, XXVI
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Sei häufig an Sterbebetten.
Es ist ein Ratschlag, der erst mal nicht besonders aufmunternd klingt. Wenn Charles ihn hier im Zusammenhang mit der Predigtkunst dennoch formuliert, dann geht es ihm nicht um die christliche Pflicht, Kranken und Sterbenden beizustehen. Das war für ihn eine Selbstverständlichkeit. Für ihn war die Begegnung mit Menschen, die vor den Toren der Ewigkeit stehen, darüber hinaus ein Lernfeld. Wie alle Philosophie und Theologie wusste er um das Geheimnis des Memento mori (Gedenke des Todes). Es ist die Überzeugung, dass in der Beschäftigung mit der eigenen Endlichkeit ein Mensch eine Ahnung davon erhält, worauf es im Leben ankommt. Mit anderen Worten: Das Erleben des Todes verdichtet unser Wissen über uns und die Welt. Und das kann für eine Predigt von unschätzbarem Wert sein. Charles geriet ins Schwärmen, wenn er von dieser Erfahrung berichtete. Solche Momente seien »leuchtende Bücher«.
Once more, be much at death-beds; they are illuminated books. | Lectures to my Students, 200
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So simpel dieser Hinweis auch klingt, so sehr hat er es in sich. Prediger und Predigerinnen müssen etwas zu sagen haben. Etwas, wofür es sich lohnt, sonntags zeitig aufzustehen und rechtzeitig im Gottesdienst zu sein. Aber was könnte das sein? Hinter vieles, was heute von Kanzeln und Pulten gesagt wird, lässt sich getrost ein Haken machen. Es ist alles richtig, aber Vibrationen entstehen dadurch nicht. Wenn man sich in die Predigten von Charles vertieft, stellt man überraschend fest, dass moralische Anweisungen wohl vorkommen, aber in der Summe eher eine Nebenrolle spielen. Charles ging es weniger um das, was wir für Christus tun können, als vielmehr um das, was er für uns tat. Das ist ein wichtiger Schlüssel, um seine Ausstrahlung zu verstehen. Wie viele Predigten reden davon, was wir tun sollten? In den einen geht es meist um die individuelle Moral, in anderen dagegen eher um soziale Dimensionen. Beides hat seinen Raum und Platz – doch nur für sich genommen kann es schnell langweilig werden.
Have something to say, and say it earnestly, and the congregation will be at your feet. | Lectures to my Students, 146
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Ich warne euch sehr davor, Predigten abzulesen.
Wir lernen Charles hier als einen Befürworter der freien Predigt kennen. Oft betrat er die Bühne nur mit wenigen Notizen, oft genug verzichtete er ganz auf sie. Damit war er nicht alleine. Schon in der frühen Kirche galt diese Form der Predigt als das Maß aller Dinge. Die Vorteile der freien gegenüber der abgelesenen Predigt liegen auch heute auf der Hand: Sie ist bei Weitem lebendiger und den Menschen zugewandter. Und schließlich ist eine Predigt auch kein Vortrag, sondern die Gute Nachricht. Doch wie gelangt man zu dieser Fertigkeit? Charles ging es nicht um ein stupides Auswendiglernen des vorbereiteten Stoffes. Vielmehr machte er Mut, im Stoff intensiv zu leben. Darum forderte er auch dazu auf, Predigten aufzuschreiben, um sie so zu verinnerlichen. Das Ziel war also, sich mit dem Manuskript vorzubereiten, dann aber ohne Manuskript die Predigt vorzutragen. Wer es heute ausprobiert, wird rasch merken, welche Aufmerksamkeit plötzlich entstehen kann.
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