– Ich nehme dich zu mir, hatte er zu seiner Mutter gesagt und sich an sie gelehnt.
– Ist gut, mein Lieber, sagte sie da.
Die Arbeit mit dem Holz, der Innenausbau des Hauses, das uns noch vor Herbst oder Winter aufnehmen sollte, schritt langsam voran, nachdem die Verkleidung des Fachwerks fertiggestellt war und sich abzeichnete, was einmal die Zimmer werden sollten. Mein Vater schien es mehr zu genießen, in Ruhe und Frieden vor sich hin zu werkeln, als daß es ihm gefallen hätte, etwas zum Abschluß zu bringen, um das Werkzeug zur Seite zu legen und anderswo eine Arbeit annehmen zu müssen. Dann entschloß er sich, es in diesem Jahr überhaupt zu lassen.
– Wir kommen schon irgendwie über die Runden, sagte er.
– Wie ich dich kenne, kann ich mir auch kaum etwas anderes vorstellen, sagte der Reeder in Höfn beim Abendessen.
– Das sollte man wohl meinen, stimmte ihm seine Frau zu.
Damit war es beschlossene Sache, daß wir den ganzen Sommer und den Herbst über bleiben würden, bis der Bau vollendet war.
– Die Küche habe ich vor Weihnachten fertig, sagte mein Vater.
– Sie wird bestimmt sehr schön. Ihr werdet es gemütlich haben in dieser ganzen Pracht, schmeichelte die Frau auf Höfn.
– Schleich hier nicht herum und halte Maulaffen feil! sagte Mutter zu mir.
– Der Junge hängt aber auch immer am Rockzipfel seiner Mutter, sagte die Frau des Hauses und meinte, es wäre viel gesünder für mich, an der frischen Luft zu sein.
Ich hörte, daß die anderen Kinder draußen auf der Treppe unanständige Lieder sangen, und ging zu ihnen, um mitzumachen und selbst Unsinn zusammenzureimen. Ich erinnere mich noch ziemlich genau daran; es sollte von der Frau im Nachbarhaus handeln, die uns nie etwas getan hatte.
Die Fresse von Arnarhvóll,
die immer »Mund« sagt,
die stopft ihre Klamotten,
die stopft ihre Kinder.
Sie pinkelt und kackt auf sie
und stopft sie in ihren Pinkelpott.
Die Jungen von Höfn waren sprachlos über meine Dichtkunst, und ihre Schwester bewunderte mich nicht weniger. Obwohl sie den Inhalt verstanden, waren sie keine Literaturwissenschaftler und hatten daher keine Ahnung davon, daß mein Einfallsreichtum in Wahrheit aufgrund meiner insgeheim gärenden Komplexe von den Worten ihrer Mutter ausgelöst worden war. Ich wusch mir meine eigene Mutter mit diesen schmutzigen Versen auf eine anständige Frau ab, die ich sogar bewunderte, weil in ihrem Haus, das in meiner Vorstellung einem Palast glich, die Türdurchbrüche zur guten Stube bogenförmig gewölbt waren und vor ihnen an Stelle von Türen schwere, rote Vorhänge an Ringen hingen, die über eine hölzerne Stange glitten, so daß man sie mit einer raschen Bewegung auf- oder zuziehen konnte, wobei die Ringe eine himmlische Musik erzeugten, die andere einfach als Geschepper bezeichneten. So verschieden waren die Menschen. Es waren auch nicht alle von meinen Versen begeistert. Am wenigsten meine Mutter. Und Vater sagte:
– Das ist ungehobelter Mist. Du mußt dir mehr Mühe geben!
Auch er selbst mußte sich natürlich beim Hausbau Mühe geben, wollte er als tüchtiger – gleichwohl ungelernter – Zimmermann und nicht als Pfuscher oder Hobbytischler angesehen werden. Seine äußerste Sorgfalt führte dazu, daß ein Meister aus Reykjavík, der bemerkt hatte, wie geschickt sich mein Vater anstellte, als er ihm einmal bei der drohenden Überschreitung eines Termins bei Holzarbeiten zur Hand ging – mein Vater war eigentlich zum Zementgießen angestellt –, ihm schon vor Jahren eigens ein Zeugnis ausstellte und ihn ermunterte, einen gültigen Gesellenbrief zu beantragen. Nun tat er es und bekam binnen kurzem eine Urkunde aus gehändigt, die er in einen schwarzen Rahmen faßte. Doch wartete er damit, sie an die Wand zu hängen, bis er das Geld für eine geblümte Tapete zusammenhatte. Auf dem Bogen hinter Glas stand in schwarzen, schmalen und leicht geneigten Lettern Handwerksbrief. Dann folgte der Text.
Das Dokument erteilte ihm die Genehmigung, »zu privaten Zwecken in einer Werkstatt ein Handwerk auszuüben, gemäß Gesetz Nr. 18 vom 31. Mai 1927«.
Zuunterst aber stand der ebenso klare wie niederträchtige Satz: »Erteilt gemäß Ausnahmeregelung für außerhalb der Stadt Ansässige bis zum 1. Juli ’37.«
Dieser sogenannte Handwerksbrief war mit ansehnlichen obrigkeitlichen Schnörkeln vom amtierenden Sýslumann in Hafnarfjörđur am 28.Juni 1937 unterzeichnet. Dementsprechend hatte man meinem Vater nicht gerade besonders viel Zeit für sein Zimmermannsgewerbe eingeräumt. Lediglich drei Tage, sofern es sich nicht um einen Schreibfehler oder eine Achtlosigkeit von seiten des Beamten handelte, weil er an diesem Morgen schlecht gelaunt oder betrunken zum Dienst erschienen war und weder Ort noch Datum, geschweige denn die Jahreszahl korrekt einsetzen konnte.
In Island waren Vergehen der Obrigkeit gegen das einfache Volk immer etwas Selbstverständliches. Man hielt das für lustig oder für ein willkommenes Gesprächsthema, mit dem sich die Opfer in der ewig sich wiederholenden Ereignislosigkeit des Alltags die Zeit vertreiben konnten. Auf diese Weise wurde den Machthabern nachgesehen, in Ausübung ihrer Amtsgeschäfte jegliche Art von Verstößen mit der Begründung zu begehen, sie seien ihnen nicht aus Bosheit oder Dummheit, sondern lediglich im Zustand der Trunkenheit unterlaufen, der Machtmißbrauch sei nur aufgrund eines Versehens oder eines Schreibfehlers von Untergebenen erfolgt. Trunksucht entschuldigt alles in einer Gesellschaft, in der Kollektivschuld und die bequeme Ansicht herrschen, niemand sei besser als andere. Nichtsdestoweniger wird den Menschen in dieser Gesellschaft unterschiedlich viel Respekt entgegengebracht. Doch es reicht allemal, Klagen von sich zu weisen, indem man behauptet: Ich war voll. Ich kann mich an nichts erinnern. Meine Gedächtnislücken machen mich unschuldig.
Das Versehen in diesem Fall konnte also willentlich zustande gekommen, ein durchaus üblicher Scherz des Beamten oder eine Gemeinheit gegenüber einem »außerhalb der Stadt Ansässigen« gewesen sein oder sich auch nur der Interpretation des Satzes »Den Menschen freut der Mensch« verdanken, derzufolge eine Amtsperson einen Niedriggestellten in ihrem Büro zum Spielzeug der Langeweile machen darf.
Damals und eigentlich auch heute noch bereitet es der Kultur- und Machtelite große Freude, das Land außerhalb Reykjavíks als Steppe endloser Plackerei oder Weidegrund von hirnlosen Idioten anzusehen, die so dumm sind, daß sie nicht einmal Verstand genug besitzen, in die Hauptstadt zu ziehen.
Wie dem auch sei, habe ich den Verdacht, daß meinem Vater der »Irrtum« voll und ganz entgangen ist und der hinterhältige Scherz damit sein Ziel verfehlte. Das einfache Volk ist so gestrickt, daß es nicht einmal dann etwas richtigzustellen versucht, wenn es sich vermeiden läßt. Ein Arbeiter hat für so etwas keine Zeit. Mit Juristen hat das einfache Volk gemein, auf dem Feld der Gerechtigkeit faul und nachlässig zu sein.
Mit der Urkunde verwandelte sich mein Vater im Lauf der Zeit von einem Seemann in offenen Booten zu einem Zimmermann, und er genoß den Wandel, denn es war doch ein beträchtlicher Unterschied, mit Fisch im Meer zu tun zu haben oder an Land mit den Händen über trockenes, warmes Holz zu streichen. Gleichwohl dauerte es viele Jahre, ehe er sich von seinen Vbrgesetzten und dem Meer trennen konnte und an seine Berufung als Zimmermann zu glauben begann. Nach wie vor fuhr er im Winter zur See, zimmerte und reparierte im Frühjahr, verdingte sich im Sommer als Erntearbeiter bei den Bauern und machte im Herbst die Kartoffeln aus, so daß er dem Staatlichen Gemüsehandel regelmäßig drei Sack Kartoffeln und einen mit Rüben verkaufen konnte, um so das Familieneinkommen zu sichern.
Читать дальше