Der Nickel aber wußte, wie man sah, Bescheid über die merkwürdigen Halsschmerzen der Jungen, er hatte es wohl in seinem goldenen Himmelsbuch gelesen. Mutter wurde es schwül. Sie fragte ihn also ablenkend, ob er nicht eine Tasse Kaffee trinken und etwas Mohbabe essen wollte. Bei »Kaffee« schüttelte er noch den Kopf mit der riesigen Kapuze, bei dem Wort »Mohbabe« aber hörte das Schütteln auf. Man sah hinter seiner Brille die Augen groß und sehnsüchtig werden. Mutter gab Angela einen Wink, und die lief.
Mohbabe ist ein schlesisches Gebäck. Es besteht aus einem Teig, in den gemahlener Mohn hineingewickelt oder auch hineingebacken wird. Wer Weihnachten keinen Mohnkuchen ißt, hat das ganze nächste Jahr über kein Geld. Wir essen immer welchen, und so sehr viel Geld haben wir trotzdem nicht, aber immerhin ...
Der Nickel strahlte, als Angela mit dem Tablett hereinkam. Die Stimmung hob sich. Uli war inzwischen hinausgegangen und hatte sich um das Pferd des Nickels gekümmert. Es kam ihm recht bekannt vor, jedenfalls spitzte es die Ohren, als er schmeichelnd: »Elfi, Süße!« sagte. Die Jungen reiten ja jede Woche im Reitverein im Nachbarstädtchen, wo auch das Gymnasium ist. Und da sollte man sein Bahnpferd nicht wiedererkennen!
»Daß der Reitlehrer dir die Elfi gegeben hat, Nickel, das wundert mich aber«, sagte Uli treuherzig und hielt dem Nickel den Steigbügel, als der nach Beendigung des Besuchs wieder aufsaß. »Er ist doch sonst so zach. Wie hast du das denn fertiggekriegt?« Er genoß es, seinen Geographielehrer duzen zu dürfen, ohne daß der etwas dagegen unternehmen konnte.
»Reitlehrer? Ich komme vom Himmel«, brummte der Nickel und vertauschte seine Pelzhandschuhe mit ledernen, um die Zügel zu fassen. Uli grinste.
»Darf ich dich ein Stück begleiten?« fragte er in unnachahmlicher Höflichkeit. Sein Pony stand schon gesattelt bereit.
Der Nickel nickte, eigentlich wider Willen. Aber es war ihm lieb, einen Begleiter zu haben, der ihn zunächst über die Bundesstraße mit den vielen Autos und den Bahnübergang brachte, denn da war die Elfi unruhig und gar nicht von himmlicher Harmonie erfüllt gewesen. Unsere Ponys aber kennen diesen Weg, und Pferde kleben im Gelände aneinander wie die Briefmarken. So ging alles gut, und Uli ritt fast bis zum Reitverein mit. Dort machte er aus irgendeinem fadenscheinigen, aber taktvollen Grund kehrt.
»Nun findest du wohl allein weiter, lieber Nickel!« sagte er und hätte der Elfi am liebsten noch einen ermunternden Schlag auf die Kruppe geknallt. Jedoch Diplomatie ist der beste Teil des Mutes, und wer wußte, was noch nachkam!
Es kam nichts nach. Uli hatte sich aber noch am selben Abend über Atlas und Geographiebuch gesetzt und mindestens zwei Stunden lang gebüffelt, bis ihm der Kopf rauchte. Auch ein verärgerter Lehrer wird zwangsläufig entgiftet, wenn er jede Frage, die er stellt, prügelfest und sekundenschnell beantwortet bekommt.
Diese kleine Begebenheit ist übrigens ein Beweis dafür, daß Reiterei und Schule keineswegs in Gegensatz zu liegen brauchen, man muß es nur richtig anfangen.
Niemand möge annehmen, daß das Leben mit Ponys nur Vergnügen und Entspannung mit sich bringt. Es macht auch eine Menge Arbeit. So, wie jede Hausfrau vor Weihnachten die ganze Wohnung blitzblank scheuert, so werden dort Stall und Sattelkammer, Ein- und Zweispänner, Geschirr, Sättel, Trensen und Kreuzzügel blinkeblank gewienert. Im Stall konnte Ben dies Jahr nicht mittun, wie er grienend feststellte. Dafür schleppte ihm Steffi täglich ein anderes Geschirr ans Bett, und die Wohnstube roch penetrant nach Sattelseife, uns übrigens ein guter und lieber Geruch.
»Du kannst putzen! Da muß Muskelfett hinein, streng dich nur an, sonst verkümmert dein Bizeps.«
Ben fügte sich in sein Geschick. Manchmal spielte er den Elenden und legte sich zurück, um Mitleid zu erregen, wenn aber Steffi dann wieder mit vor Eifer roten Backen hereinkam und ihm flüsternd erzählte, daß sie Uli diesmal einen geflochtenen Reitzügel schenke, wurde er sofort wieder munter.
»Woher hast du den denn?« fragte er begierig.
»Den mach ich selber. Du wirst schon sehen!«
Steffi hat Ideen. Sie schnitt aus einer nicht mehr gebrauchten Einspännerleine ein Stück Zügel in der richtigen Größe heraus, versah es an beiden Enden mit einem Karabinerhaken und stach dann mit einer Ahle Löcher hinein, in regelmäßigen Abständen. Durch diese Löcher zog sie im Muster lederne Schnürsenkel, die sie für ein paar Pfennige gekauft hatte. Es war eine mühselige Arbeit, wurde aber Ulis schönstes Weihnachtsgeschenk. Uli reitet im Reitverein ein Pferd, das schwer am Zügel geht. Da ist ein geflochtener Zügel Gold wert, er rutscht einem nicht so leicht durch die Faust. Natürlich nimmt er ihn auch für seinen Isländer. Der Zügel war jedenfalls ein großer Erfolg, und Uli war selig darüber.
Meist bekommen wir auch etwas für die Ponys geschenkt. Den Dogcart zum Beispiel brachte das Christkind. Es hatte es damals schwer, ihn bis zum Heiligen Abend verborgen zu halten. Wir waren das erste Jahr im Ponyhof, der ja ganz einsam liegt, und hatten demnach keine Nachbarn und auch sonst fast keine Bekannten. Das Christkind überlegte und überlegte, schließlich stellte es ihn in die Garage eines Fahrradhändlers im Städtchen.
»Wir holen ihn dann am Heiligen Abend ab«, sagte Mutter und gab ein Trinkgeld. Aber der Verräter schläft nicht. Uli, derjenige von uns, der am besten schenken kann, noch dazu mit wenig oder gar keinem Geld, Uli hatte sich wieder einmal etwas Großartiges ausgedacht. Er wollte allen seinen Schwestern geputzte Fahrräder schenken, brachte also eins nach dem andern unter irgendwelchen Vorwänden in die Stadt, fragte beim Fahrradhändler, ob er sie dort stehenlassen dürfte, und putzte, ölte und schmierte. Eines Tages kam er aufgeregt heim.
»Es muß noch mehr Ponys in der Stadt geben«, erzählte er, »da steht ein Einspänner, ein ganz großartiges Gig, also ich sage euch ...«
Er fing an zu beschreiben. Mutter rutschte auf ihrer Eckbank hin und her. War er wirklich so harmlos?
Er war es. Die andern horchten zwar mit aufgerissenen Augen auf und ließen sich jede Einzelheit genau schildern, keins aber machte eine Bemerkung. Mutter stellte fest, daß man »noch nichts zum Abendbrot« habe, schmuggelte sich aus der Wohnstube und suchte sich ein Fahrrad. Auf diese Weise kam sie beinahe hinter Ulis Weihnachtsgeheimnisse, denn von den vier Rädern war nur noch eins da. Mit dem sauste sie in die Stadt und beschwatzte den Fahrradhändler so lange, bis er den Dogcart in die Scheune eines ihm befreundeten Bauern zu stellen und Uli auf Befragen grandios anzulügen versprach. Nur Mutters Aufregung über diese beinah eingetretene Panne hinderte sie daran, in der Garage auf alte, gummibereifte Freunde zu stoßen.
Solche Sensationen gehören zur Vorweihnachtszeit wie Blockflöte und Strickzeug, kreischende Laubsäge und überkochender Leim, zugesperrte Schubladen und angstvolles Suchen. »Ich hab es so gut versteckt, ich find’ es nicht wieder ...« Jeder hat entsetzlich viel zu tun, und trotzdem vergehen die Tage nicht. Die auswärtigen Kinder – unsere größeren Geschwister studieren oder sind gar schon im Beruf – schreiben oder rufen an, sie könnten erst im letzten Augenblick kommen, mit dem und dem Zug. Wir sehen im Kursbuch nach und merken, daß es den gar nicht gibt, rätseln herum und verlassen uns schließlich auf den sogenannten Anhalter. Wenn die Bundesbahn versagt, gibt es immer noch Autos, denen man winken kann, und kurz vor Weihnachten wird jedes arme Studentlein mitgenommen, das zu Muttern strebt.
In Westfalen ist es uns einmal passiert, daß Christine, damals noch Buchhändlerlehrling in Stuttgart, in Frankfurt den Anschlußzug nicht bekam. Er fuhr ihr vor der Nase weg. Sie rief an, sie käme erst nachts um eins. Das war ein langer Heiliger Abend! Die meiste Zeit davon saßen wir im Stall, fütterten die Ponys mit guten Bissen und erzählten uns Weihnachtsgeschichten. Unser Gutsherr war dann so rührend, Mutter in die Kreisstadt zu fahren und Christine dort vom D-Zug abzuholen, sonst hätte sie wiederum zwei Stunden auf Anschluß warten müssen. So standen die beiden doch »schon« um elf vor uns, und auf einmal war es soweit, wie man es seit einem ganzen Jahr wünschte. Das Christkind beeilte sich, die Kerzen anzuzünden – und alle Warterei war vergessen.
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