So ging es auch mit der Heimfahrt vom Krankenhaus. Mutter und Christine, die damals zu Hause war, holten ihn zweispännig mit dem Pferdeschlitten ab. Der ist geräumig und leicht, und wir haben ihn himmelblau angestrichen. Er wurde mit Stroh gefüllt, und wir legten heiße Ziegelsteine hinein, an denen man sich die Füße wärmen kann. Für oben gibt es Decken, Mäntel und Handschuhe. Pelze haben wir nicht, eigentlich gehören sie zum Pferdeschlitten wie die Kerzen zum Christbaum. Aber, wie gesagt, wir haben mehr verloren als Großvaters Fahrpelz ...
Ben wurde von fürsorglichen Schwestern die Treppen hinuntergetragen und in den Schlitten gesetzt. Er bedankte sich nach allen Seiten hin, steckte Abschiedspäckchen ein und strahlte pflichtschuldigst. Wir auch. Immer wieder rührt uns die Liebe, mit der man überall unsern unnützen, verdreckten, schulfaulen und verwöhnten Kleinen begegnet. Wir schieben das auf die Ponys. Keiner widersteht deren Charme, und jeder überträgt seine Liebe automatisch auf unsere Kleinen. Ein Wunder, daß sie nicht noch fauler, frecher und anmaßender werden. Wahrscheinlich sind das wiederum die Ponys, die sie davor bewahren. Denn Ponys, genau wie alle Pferde, verlangen, anständig behandelt zu werden; man darf beim Reiten weder launenhaft noch faul, weder jähzornig noch verwöhnt sein, sonst erreicht man nichts. Und da unsere Kinder nicht nur zum Vergnügen auf den Ponys sitzen, sondern sich auch redlich und ernsthaft um ein richtiges, echtes Reitertum bemühen, so hat es ihnen wohl noch nicht grundsätzlich geschadet, daß man sie überall so verwöhnt. Obwohl es manchmal so aussieht ...
Kaum hatten wir das Städtchen hinter uns, da verlangte Ben stürmisch, »aus dem ollen Kasten« rauszudürfen.
»Aber der Doktor hat doch gesagt, reiten wäre für dich noch verboten, solange du das Gipsbein hast«, sagte Mutter, die auf Gloa saß. Sie verspürte wenig Lust, ihr Pferd herzugeben; selten genug kam sie in dieser Vorweihnachtszeit darauf. Meist mußte sie backen, Briefe schreiben oder Besorgungen machen, und reiten taten die Kinder. Eine Strecke wenigstens wollte sie im Sattel bleiben.
»Nein. Aber hinten dranhängen!«
Ben hatte gesehen, daß im Pferdeschlitten vorn unser kleiner Rodelschlitten lag. Der war im Städtchen repariert worden, nachdem Winnetou, der ungestüme kleine Schimmel, ihn einmal samt Uli an einen Baum geschmettert hatte, daß die Kufen krachten.
»Bitte, bitte, ich möchte so gern!«
Christine unterstützte seine Bitten. Sie ist selten zu Hause, weil sie schon berufstätig ist – Buchhändlerin in München –, und ziemlich sinnlos verliebt in ihre kleineren Geschwister.
Gegen das Betteln von zweien kam Mutter nicht auf. Sie sprang also vom Pferd, nahm den Rodelschlitten heraus und band ihn hinten an den Pferdeschlitten. Ben legte sich bäuchlings drauf. Nun ging es los.
Der Pferdeschlitten ist ein Zweispänner. Von Welzheim zum Ponyhof geht es im großen und ganzen bergab, manchmal steiler, manchmal sanfter, manchmal auch geradeaus auf glattgefahrener Bahn. Es war genau das richtige für solch einen Anhänger. Der Rodelschlitten sauste und schleuderte, daß es eine Lust war. Ben steuerte erst mit dem gesunden, dann mit dem Gipsbein. Das hatte sogar mehr Wucht als das andere. Daß die Zehen nackt und rotgefroren aus dem Gips herausguckten, hatte Mutter zum Glück nicht gesehen. Ben störte es nicht, er mußte sehr aufpassen. Es war pfundig.
Von da an besserte sich Bens Aussehen täglich. Mittags, wenn bei uns Ruhe herrscht (oder herrschen soll), packten wir ihn in Decken und legten ihn auf den Liegestuhl auf der Veranda. Von da aus kann man die Ponys sehen, deshalb blieb er auch brav liegen. Einmal kam sein Arzt ihn besuchen. Wir hatten Glück, Ben hing gerade nicht am Pferdeschlitten, sondern lag draußen in der blassen Wintersonne, dick verpackt. Der Onkel Doktor äußerte sich ungemein lobend.
»Wie gut der Junge sich erholt! Das macht die richtige Behandlung. Sie haben hier ja auch eine bezaubernde Winterfrische!«
Dieses Jahr kam bei uns wieder einmal der Nikolaus, und zwar zu Roß. Er war sonst ein paar Jahre lang nicht mehr erschienen, da unsere Kinder allmählich aus dem Nikolausalter herauswachsen und er zu jüngeren gehen muß. An diesem sechsten Dezember aber polterte es abends an die Tür, die wir nie abschließen, und wir wunderten uns. Besuch steht meist schon in der Küche, ehe wir begreifen, daß einer im Anrücken ist. Deshalb ging Uli erstaunt hinaus. Gleich darauf kam er zurückgesaust.
»Der Nickel, der Nickel!«
In Schlesien wird der Nikolaus so genannt und ein bißchen als komische Figur behandelt. Man sagt ihm alberne Sprüche auf und stolpert, wenn man über seinen Sack springen soll. In Westfalen kam er mit Mitra und Krummstab, und niemand hätte daran gedacht, sich frech zu benehmen.
Dieses also schien ein schlesischer Nickel zu sein. Er polterte und schalt, trieb uns alle in eine Ecke, bedrohte uns mit der Rute und verlangte, Ben zu sehen. Ben lag zum Glück in der Wohnstube auf der Couch, wie Mutter auf die Frage des Nickels hin berichtete.
»Soso. Das wollen wir uns doch mal ansehen«, brummte er und folgte ihr, die kopfschüttelnd voranging. Ben lag da und las in einem Pferdebuch. Er nützte die Zeit, sich wenigstens theoretisch weiterzubilden, wenn er nun doch mit dem Reiten aussetzen mußte. Die »Richtlinien für Reiten und Fahren« lagen immer neben seinem Kopfkissen.
»Na, nun zeig mir mal dein Gipsbein!« verlangte der Nickel, und Ben streckte es gehorsam aus dem Bett. Es sah etwas mitgenommen aus, schmutzig und um die Zehen herum schon etwas abgebröckelt, denn für Rodelschlittenfahrten war es eigentlich nicht gedacht. Der Nickel betrachtete es eingehend und genau. Das Datum, an dem es abgemacht werden sollte, stand, wie üblich, mit Tintenstift daraufgeschrieben.
»Na, da wollen wir es mal glauben«, brummte er und rückte Brille und Bart wieder zurecht, »ich habe nämlich von deinem Lehrer gehört, daß du manchmal ein Bein brichst, wenn es gerade so paßt.«
Ben wurde rot, Mutter dazu. Sie wußten beide, worauf der allwissende Himmelsbote anspielte. Im Herbst hatten die Jungen, die beide ins selbe Gymnasium gehen, die Hubertusjagd mitreiten wollen und Mutter inbrünstig gebeten, ihnen schulfrei dazu zu erbitten. Mutter kratzte sich am Kopf.
»Ich weiß nicht, Kinder, ich weiß nicht.«
Reiten gehört noch nicht wieder zu den Pflichtfächern der höheren Schule. Leider! Früher lernten die jungen Männer Reiten, Tanzen und Fechten. Wäre es nicht besser in der Welt bestellt, wenigstens die beiden ersteren Künste wieder als Pflichtfach einzuführen?
Mutter hatte schließlich zwei Entschuldigungen geschrieben, ihre Söhne hätten Halsschmerzen gehabt. So waren sie doch in den Genuß der Hubertusjagd gekommen, auf Islandponys. Auch Steffi hatte sie einmal mitgeritten. Damals ging sie noch in unserem Städtchen in die Schule, und an dem betreffenden Tag gab es Zeugnisse. Es war unmöglich, da zu fehlen. Deshalb stand nach Schulschluß Mutter mit beiden gesattelten Isländern vor der Schultür, und Steffi, die sich auf einem verschwiegenen Ort in die Reithose hineingehangelt hatte, ließ Schulkleid und Mappe beim Hausmeister und saß vor der Schule auf. Im eiligen Trabe ging es los, denn wir haben bis zum Reitverein acht Kilometer zurückzulegen, und von dort aus startet erst die Hubertusjagd. Unsere Ponys, die an sich schon kürzere Beine haben als ihre großen Kollegen, müssen also an diesem Tag der Bewährung noch zusätzliche sechzehn Kilometer traben, keine kleine Leistung ...
Trotzdem hielten sie durch und sprangen alle Hindernisse wie die anderen Pferde. Hinterher gestand Steffi, daß ihr an diesem Morgen hundeelend gewesen sei und sie das gute Frühstück, mit dem Mutter sie der Hubertusjagd wegen bedacht hatte, fröhlich wieder aufwärts gegessen hatte. Man könnte vermuten, das habe nicht, wie sie behauptet, am Lampenfieber gelegen, sondern an dem Zeugnis, das sie an diesem Tag bekam. Es war gottsjämmerlich schlecht, und Mutter bekam es so bald nicht vor die Augen. Wir glauben aber doch nicht, daß es Steffis Magennerven in Unruhe gebracht hat, Steffi ist Zeugnissen, jedenfalls Schulzeugnissen, gegenüber immer von einem staunenswerten, ja geradezu heldischen Gleichmut gewesen. Ihr Abgangszeugnis, das sie mit sechzehn Jahren bekam, ehe sie Pferdebursche auf einem Gestüt wurde, liegt heute noch vergraben unter Ausbindezügeln, Trensenringen und Turnierschleifen in ihrer Schublade, und keiner von uns durfte es beaugenscheinigen. Da Steffi nicht studiert, sondern Reitlehrerin werden will, ist das schließlich nicht so wichtig.
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