Einmal hatte Ben in der Adventszeit ein Bein gebrochen. Das kommt bei dem besten Reiter vor, Ben ist einer unserer Besten. Kunststück, er kam sehr früh aufs Pferd, während wir andern schon größer waren, zum Teil sogar schon zu groß für die Ponys, jedenfalls für die Shetlandponys, mit denen wir anfingen. Später kaufte Mutter die Isländer, mit denen man reiten kann, bis man Großmutter ist. Ben hatte also das Bein gebrochen und sah fürchterlich blaß aus, wie eine Spitzmaus. Mutter sagt dann immer im kläglichsten Ton: »Schpitzmaus!«, als sei er noch ein Baby, und wir alle machen es so lange nach, bis Ben voller Wut mit Kissen oder Büchern nach uns wirft. Er lag im Krankenhaus und hatte diesmal nur den einen Sonderwunsch, nach Hause zu dürfen. Trotz allem geschwisterlichen Hohn verstanden wir das. Mutter sprach mit dem Arzt. Der machte Ben ein »Zuckerbein« – einen Gipsverband, verabschiedete ihn mit einem liebevollen Klaps auf den Körperteil, der dem Reiter nächst dem Herzen der wichtigste ist, und sagte:
»Aber nicht heute schon wieder aufs Pferd, junger Mann, verstanden? Sonst holen wir dich zurück.«
Ben nickte. Er kann dann ungeheuer brav und scheinheilig aussehen, fast alle Erwachsenen fallen darauf rein. Er lag in Welzheim, einem Städtchen etwa zwölf Kilometer vom Ponyhof entfernt. Wir haben ihn mehrmals mit den Ponys dort besucht, ihm und seinen Zimmergenossen Pfefferkuchen und Äpfel und Nüsse gebracht und bei ihm gesessen, damit es nicht gar so langweilig für ihn war. Die freundliche Schwester Marie erlaubte uns sogar, daß wir ihn mit in den Hof hinunterschleppten, damit er die Ponys begrüßen und streicheln konnte. Meist kamen wir zu mehreren, zwei auf den Islandstuten Gloa und Eyglo, zwei auf Rodelschlitten, die hinter Appelschnut oder Winnetou hersausten. Sogar Arndt, unser Ältester, fand diese Art der Fortbewegung lustig und bemerkenswert. Er ist sonst derjenige von uns, der ein bißchen auf die ganze verrückte Ponybegeisterung heruntersieht und sagt:
»Betüdert euch nur nicht.«
Er behauptet auch, unsere Pferdchen käuten wieder, wenn sie mal auf der Wiese in der Sonne liegen. Dann sprängen wir ihm am liebsten ins Gesicht vor Wut. Wiederkäuen, das tun doch nur Rinder! Und wo, bitte schön, sind denn die Hörner bei unsern Ponys?
Auch diesmal hatten wir Ben besucht. Wir saßen an seinem Bett, unterhielten uns mit ihm und seinen Zimmergenossen, knabberten alle zusammen Baseler Leckerli und Spekulatius und erzählten. Als es dämmerig wurde, verabschiedeten wir uns und gingen hinunter. Da guckten wir aber! Kein Pony zu sehen! Und wir hatten sie doch sorgfältig angebunden, denn im Schnee, wenn sie nicht weiden können, spazieren sie eben doch manchmal davon.
Ponys sind Meister im Aufknüppeln von Knoten, Durchnagen von Riemen und Herausschlüpfen aus Stallhalftern. Sie sind ja viel klüger als Pferde. Das aber wissen wir seit Jahren und handeln danach. Jetzt aber waren sie wirklich weg. Was nun?
Es wurde schon dunkel. Wir gingen ein Stück die Straße entlang, die nach Hause führt, fragten einen Tankwart an der VW-Tankstelle. Nein, nichts vorbeigekommen, er hätte es gesehen. So trödelten wir wieder zurück und ein Stück zur Stadt hin; das Krankenhaus liegt am Stadtrand. Und da trafen wir auf Leute, die uns anscheinend ansahen, was wir suchten.
»Ihre Ponys? Die sind dort hinunter, der Oberarzt reitet das eine große, und die Schwestern sitzen auf dem Schlitten ...«
Aha! Da konnten wir suchen. Denn wenn jemand im Krieg einen Araber geritten hat, einen so feurigen, daß nicht einmal der Regimentskommandeur ihn bändigen konnte – darunter tut es niemand, der unsere Ponys sieht und vom Krieg zu erzählen beginnt; es ist erstaunlich, wie viele Araber es im Krieg gegeben haben muß –, der kommt so bald nicht wieder. Wir gingen ins Krankenhaus zurück und setzten uns wieder zu Ben. Nur einer bezog Posten am Fenster. Schließlich erschienen die Ausreißer.
Der Arzt, noch ziemlich jung, dürr wie Ghandi und braun wie eine Haselnuß, war Bayer. Er hatte sich, wie er ging und stand, aufs Pony »geworfen«, mit Mantel und Hut. Jetzt, da er uns am Fenster entdeckte, sprengte er ums Krankenhaus, jodelte zu uns herauf und winkte. Sein Hut flog in den Schnee. Wir sausten die Treppe hinunter und hinter ihm her.
»Hab Dank, du liebe Gute!« hörten wir grade noch. Er war abgesessen und umhalste Gloa zärtlich. Die Schwestern, die mit wehenden Hauben auf dem Rodelschlitten erschienen, hatten noch nicht genug von diesem Sport. Sie baten und bettelten, nur noch mal ein kleines Stück in die Stadt fahren zu dürfen.
So wurde es richtig dunkel, ehe wir aufbrechen konnten.
Ponys finden jeden Weg zum Stall zurück, den sie ein einziges Mal gegangen sind. Wir hatten also keine Bedenken. Nur auf Hanko mußten wir aufpassen, der lief frei neben seiner Mutter her – manchmal auch nicht; kleine Pferdesöhne bummeln genau wie kleine Menschenkinder, die immer an Mutters Hand bleiben sollen –, und wir hatten noch ein ganzes Stück Fahrstraße vor uns, ehe wir in den abkürzenden Feldweg einbogen. Da haben wir trotz der Schneekälte mächtig geschwitzt. Immer wieder, wenn ein Auto sich ankündigte, mußte einer von uns vom Schlitten oder Pony herunter und Hanko erwischen, damit er nicht ins Auto lief. Steffi kann das am besten, aber manchmal mußten auch die andern ran, Katrin oder Angela oder auch Mutter. Schneeausflüge sind keine Erholungsfahrten.
Hier muß ich etwas einschalten: Alle Autofahrer, eigentlich ohne Ausnahme, benehmen sich, wenn wir mit unsern winzigen PS daherkommen, auf das liebenswürdigste und netteste. Sie steigen sofort vom Gaspedal herunter und vermindern ihre Geschwindigkeit und damit die Gefahr für unsere kleinen Bummelanten. Das tun sie freilich auch, um die Ponys zu sehen , aber außerdem auch aus Rücksicht. Es wird so viel über Rücksichtslosigkeit der Autofahrer erzählt. Wir können da nicht einstimmen. Allein viele Lastwagenfahrer finden es lustig, ganz nahe neben unsern Reitponys ihre entsetzlich lauten, nerventötenden Hupen ertönen zu lassen, wahrscheinlich versprechen sie sich davon, daß wir vor Schreck herunterfallen werden. Wir tun ihnen diesen Gefallen nicht, und auch die Ponys sind an sich autosicher. Freilich erschrecken sie jedesmal sehr, und das, finden wir, ist kein Witz. Tiere zu erschrekken und sich darüber lustig zu machen, das ist so häßlich, so herzensroh –, vielleicht aber nur unüberlegt. Vielleicht hilft dieses Buch ein kleines bißchen mit, diesen Unfug zu steuern, wir sind ja nicht die einzigen Ponyreiter in Deutschland.
»Holen Sie Ihren kleinen Sohn lieber nicht mit dem Rodelschlitten ab«, hatte der behandelnde Arzt geraten. »Er war jetzt längere Zeit im zentralgeheizten Zimmer und holt sich womöglich eine Erkältung.«
Ben ist dünn und war als kleines Kind oft krank – er erblickte das Licht dieser Welt, als wir noch keine Ponys und auch sonst so gut wie nichts hatten, Mutter jedenfalls kein Bett. Wir andern hatten zu zweit oder dritt je eins – oder ein Sofa –, wie das eben damals so war. Über ein Jahr lebte Ben ausschließlich von Mutter, wir bekamen kein Gemüse, kein Obst, keine Milch, keine Butter. Wenn Mutter ihn nicht hätte stillen können, wäre er verhungert. Auch so blieb er zart, und seine Beine bogen sich nach außen, als er anfing zu laufen, daß man einen Fußball hätte durchschießen können. Wir größeren Kinder bewiesen das mit der Tat und fanden es herrlich lustig, Mutter weniger. »Die typischen Reiterbeine«, sagte sie manchmal, aber es klang eher betrübt als anerkennend. »Wann jemals«, so dachte sie wehmütig, »wird dieser arme kleine Kerl mal aufs Pferd kommen!«
Aber hier wie überhaupt
kam es anders, als man glaubt.
Ben saß nicht nur schon mit sieben auf dem Pony, seine Beine hatten sich inzwischen gestreckt und sind heute kein bißchen mehr krumm. Was beweist, daß der Mensch, viel, viel mehr aushält, als man gewöhnlich annimmt.
Читать дальше