„Es kann leider nicht sein,“ sagte Christine, „vorläufig nicht. Übrigens hab ich mit Josephe selbst schon davon gesprochen und sie will absolut nichts davon hören. Sie weiss, dass es Schwierigkeiten und Kämpfe gäbe, und es wäre ihr unerträglich, sich als die Veranlassung dazu zu wissen.“
Von dem letzten Teil dieses Gespräches, das in Christines Zimmer stattfand, wurde Esther zufällig Zeugin und lauschte stumm, mit grossen Augen. Ulrike begab sich zu Josephe, der sie etwas vorzulesen versprochen hatte, und Josephe erwartete sie bereits. Sie sass mit einer Stickerei am Fenster und lächelte ihr freundlich entgegen. Es war zwölf Uhr vorüber, als sie begann, und mit Kraft und Verständnis las sie Stellen aus Amaranth, aus Stifters Hochwald, aus Hamerlings König von Sion; dann legte sie die Bücher beiseite und rezitierte auswendig, in englischer Sprache, zwei lange Gedichte von Tennyson und die Abschiedsstanzen aus Byrons Childe Harold.
Nach den letzten Versen erscholl beifälliges Händeklatschen, und sie fuhr bestürzt herum, wie wenn sie den Eintretenden nicht gehört hätte; sie hatte ihn aber wohl gehört: es war Mylius, der nun bedächtig den Kopf wiegte und mit bewundernd emporgezogenen Brauen sagte, ein solches Talent sei alles Lobes würdig; ob sie ausser der englischen noch eine andere Sprache beherrsche? Zu dienen, erwiderte sie leichthin, Französisch und Italienisch fliessend, Polnisch und Spanisch zur Not. Wann sie denn Zeit und Gelegenheit gehabt, das alles zu lernen? Da müsse sie doch unendlichen Fleiss drangesetzt haben? O nein, sagte sie; in den sechs Jahren, seit sie aus dem Elternhaus fort sei, habe sie mit so vielen Leuten aus aller Herren Länder zu tun gehabt, dass sie sich die Sprachen spielend angeeignet habe. Wenn man mit betrügerischen Agenten oder einer hochmütigen und schlechtgelaunten Lady oder Vicomtesse beständig um den letzten Schilling raufen müsse, flögen einem die Vokabeln schnell auf die Zunge und Syntax und Grammatik gäben sich von selber. Natürlich habe sie auch gelernt, aber der beste Lehrmeister sei das Schicksal.
„Also eine Perle“, meinte Mylius schmunzelnd.
„Eine Perle? möglich,“ versetzte sie lachend, „doch leider ohne Fassung und noch nicht mal aus der Muschel.“
„Immerhin, mein Kompliment,“ sagte Mylius; „eine junge Person wie Sie scheint mir berufen, in der Welt ihr Glück zu machen.“
Da Ulrike scharmant zu erröten wusste, schmeichelte die Anerkennung dem, der sie spendete, und erhielt ihn zugleich tributpflichtig. „Was sagen Sie zu Ihrem Vater?“ wandte sich Ulrike an Josephe, als Mylius das Zimmer verlassen hatte; „er ist ja gar nicht der Wauwau, für den man ihn ausgibt. Ein vollendeter Kavalier.“
„Wauwau? davon weiss ich nichts,“ erwiderte Josephe stirnrunzelnd; „dass er sich zu benehmen versteht, ist mir nichts Neues.“
Ulrike biss sich auf die Lippen.
Als sie am andern Nachmittag kam, war Christine mit Josephe ausgegangen. Esther und Aimée sassen am Tisch im Wohnzimmer und hatten einen abgegriffenen Schmöker aus der Leihbibliothek vor sich liegen, in den sie gemeinsam versunken waren. Wer früher mit der Seite fertig war, musste auf die andre warten. Sie erwiderten mürrisch, ohne emporzublicken, Ulrikes heiteren Gruss, und Lothar, der mit lächerlich grossen Schritten, die Hände auf dem Rücken, durch das Zimmer marschierte, schielte von Zeit zu Zeit grimmig nach ihr hin. Ulrike streifte die Handschuhe ab, musterte von ihrer schlanken Höhe herab alle drei erstaunt und fragte mit emporgezogenen Brauen: „Was ist los mit euch?“
„Nichts Besonderes“, fauchte der Knabe mit zänkischer, doch unsicher stotternder Stimme und pflanzte sich vor ihr auf, „wir wollens uns bloss nicht mehr gefallen lassen, dass Josephe alles haben soll und wir gar nichts. Sie ist ohnehin schon Mutters Schosskind, und jetzt wollen Sie auch noch eine Erholungsreise mit ihr machen. Wozu denn? Was mischen Sie sich denn in unsere Familienangelegenheiten? Wir erlauben das einfach nicht, verstehen Sie?“
Weiter kam er nicht; es gab einen Klatsch, und er hatte eine schallende Ohrfeige sitzen. Ulrike sagte gleichmütig: „Wenn sich die andre Backe beschwert, dass sie nichts gekriegt hat, kann sie auch was haben.“
Die Verblüffung des jungen Menschen war masslos. Er rieb die geschlagene Wange mit den Fingerspitzen und starrte Ulrike zornig und entsetzt an. Aber unter ihrem kühnen, spöttischen Blick wurde er von Sekunde zu Sekunde befangener, endlich schlug er die Augen nieder, schob die Hände in die Taschen und zuckte verlegen die Achseln.
Jetzt begann Ulrikes Kunststück. Ihn unterm Arm nehmend, fragte sie lachend, obs weh getan habe. Er nickte. „Das ist gescheit“, lachte sie. Errötend suchte er sich ihr zu entwinden, aber sie hielt ihn fest und neckte ihn mit seinem männlich-entschlossenen Auftreten, das ihr nur deshalb nicht imponiert habe, weil sie selber ein halbes Mannsbild sei und sich allerwegen habe ihrer Haut wehren müssen. Und sie erzählte im kollegialsten Ton ein paar lustige Episoden aus ihrem bewegten Wanderleben. Da wurde Lothar zahm. Er lauschte vergnügt und mit bewundernder Miene. Sie gingen dabei im Zimmer auf und ab, und Esther und Aimée, die ihren Augen nicht trauen wollten, vergassen weiterzulesen und blickten entgeistert drein, mit den Köpfen automatenhaft ihrem Auf- und Abschreiten folgend. Aus ihrem düsteren Staunen über die rasche Abtrünnigkeit des Bruders schloss Ulrike heimlich belustigt auf den Umfang der Verschwörung.
Als sie einmal so weit war, bedurfte es keiner grossen Anstrengungen mehr, Lothar völlig auf ihre Seite zu ziehen. Sie fand neben allem andern Wirken, das sich von Tag zu Tag breiter entwickelte, immer noch Zeit und Gelegenheit, sich mit ihm zu beschäftigen. Sie holte ihn schlau über seine Wünsche und Neigungen aus und unterstützte sie, ohne zu deutlich zu werden. Bloss indem sie sich wunderte, wusste sie den Geist der Widersetzlichkeit in ihm zu wecken. Wenn er plötzlich kühn in seinen Äusserungen wurde, warnte sie ihn, aber in solcher Art, dass ein Gelüst erst recht wachgerufen wurde. Sie liess durchblicken, wie leicht die eisernen Gebote, die ihn umschränkten, zu umgehen waren, dabei schien es, als bestärke sie ihn in seiner Furcht vor Übertretungen, so dass sie sich im gegebenen Fall immer rechtfertigen konnte. Sie lieh ihm kleine Geldbeträge. Sie schlug die Hände überm Kopf zusammen, als er ihr verriet, dass er zwanzig Kreuzer Taschengeld in der Woche bekam. Damit liessen sich keine grossen Sprünge machen, sagte sie mitleidig und erzählte von jungen Lords und jungen Grafen, die mit Goldstücken um sich würfen wie gewöhnliche Menschen mit Zwetschenkernen. Sie verstand es, sittliche Entrüstung über eine solche Charakterbeschaffenheit zu äussern und zugleich einen verklärenden Schein um sie zu malen, in den Tadel einen Seufzer nach den verbotenen Früchten zu mischen, und hatte jedesmal das Vergnügen, zu beobachten, wie der Schlummer des Verlangens in wissenden Wunsch überging. Dann aber beschwor sie ihn, das Verderben zu meiden und ein gehorsamer Sohn und anständiger Mensch zu bleiben.
Er gelobte es treuherzig.
Da er ihr Schuldner geworden war, die Beträge liefen freilich nicht über zwei oder drei Gulden, geriet er auch in Abhängigkeit. Und da sie als Weib Eindruck auf ihn machte, war seine Unterwerfung freiwillig und enthusiastisch. In seinem Gemüt begann es zu brodeln und zu sieden; jeder Blick, jedes Wort Ulrikes nährte Unzufriedenheit mit dem Bisherigen; die Fesseln, die er kaum gespürt, weil sie gleichsam in die Existenz hineingewachsen waren, fingen an, zu drücken; die Regel und Gebundenheit der Tage erregte eine böse Ungeduld; er wollte über sich hinaus, über die Jahre hinaus, über die Vorschrift hinaus, das Blut war erhitzt, formlose Entschlüsse ballten sich.
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