„Große Güte, die sind schon unten!“ Er wandte sich an ein jüngeres Mädchen, das auf das Startzeichen wartete. „Halt! Stop! Mach den Platz frei! Erst kommt die hier dran!“ Er sah sie an. „Wie heißt du?“
„Ilse.“
„Also, ab mit dir, Ilse!“
Ilse schob sich mit beiden Stöcken ab. Sie war zwar schon als kleines Mädchen mit der Mutter in den Wintersport gefahren und hatte als Fünfjährige an ihrem ersten Skikurs teilgenommen, aber sie hatte sich, wie es ihre Art war, vor jeder Anstrengung gedrückt, wo sie nur konnte. Außerdem haßte sie es, in den Schnee zu fliegen, und fuhr deshalb vorsichtig wie auf Eiern.
Als die anderen sie kommen sahen, versuchten sie sie anzufeuern, „Bißchen schneller!“ riefen sie. „Mehr Schwung!“ und: „Nun mach schon, Ilse!“ – Sie lachten, weil Ilse, Leonas Schal, der gar nicht zu ihrem Anzug paßte, kunstvoll um die Locken drapiert, eine komische Figur machte.
Ilse hob den Blick von der Piste und sah auf ihre Mitschülerinnen hinunter – und schon war es passiert: sie hatte einen kleinen Buckel übersehen, machte notgedrungen einen Sprung, federte beim Aufkommen nicht genug ab und landete kopfüber im hohen Pulverschnee neben der Piste.
Die Zuschauer lachten – nicht aus Schadenfreude, sondern weil es wirklich urkomisch ausgesehen hatte.
Jetzt bemühte sich Ilse, aus dem Schnee zu krabbeln, ihre Skier wieder nebeneinander zu stellen und hochzukommen, ohne daß sie unter ihr wegrutschten. Dabei machte sie die sonderbarsten Verrenkungen und bot eine noch belustigendere Vorstellung. Wäre es ihr gelungen, ein vergnügtes Gesicht zu machen und womöglich noch so zu tun, als übertriebe sie ihre Schwierigkeiten absichtlich, hätte sie bestimmt die Lacher auf ihre Seite gebracht. Aber sie konnte ihren Ärger darüber, eine schlechte Figur zu machen, nicht verbergen, und so wurde sie ausgelacht.
„He, Ilse!“ rief Klaus Voss ihr zu. „Bist du mit dieser Nummer noch frei?“
„Halt die Klappe!“ gab sie mißgelaunt zurück. „Ihr könnt mich doch alle mal!“ Endlich war sie wieder auf die Beine gekommen und rutschte nun den letzten Weg der Strecke übervorsichtig im Schneepflug herunter.
„Aber, aber!“ spottete Alma. „Wie undamenhaft!“
Leona hieb in dieselbe Kerbe. „Wenn das deine Mutter gehört hätte!“
Ilse war jetzt unten angekommen, klopfte sich den Schnee von ihrem Anzug und gesellte sich zu den Freundinnen. „Wenn ihr mich fragt … diese blödsinnigen Skiferien sind wieder einmal die reinste Schikane vom Uhu!“
„Spinnst du?“ fragte Alma und riß die braunen Augen in echter Verständnislosigkeit auf.
„Skifahren macht doch Spaß!“ rief Sabine.
„Ja, in einem schicken Wintersportkurort, wo es elegante Lokale und Geschäfte gibt, wo was los ist! Aber hier, drei Kilometer vom nächsten Dorf entfernt, nur unter Schülern und Schülerinnen … nein, danke.“
Die anderen waren natürlich nicht ihrer Meinung und äußerten das lautstark. Ilse beharrte auf ihrem Standpunkt.
„Wozu zanken wir uns?“ fragte Leona endlich. „Wenn Ilse keinen Spa am Skifahren hat, ist das doch ihre Sache. Wir können sie nurbedauern, bekehren wäre unmöglich.“
„Sagen wir so“, meinte Alma, „Ilse liebt am Ski nur den Apres-Ski!“
Leona und Sabine lachten.
„Und wenn es so wäre?“ verteidigte Ilse sich hitzig. „Natürlich ist das Drum und Dran beim Skifahren schöner als das Skifahren selber! Ich gebe zu …“
Die Stimme Herrn Ganzerls machte der Debatte ein Ende. Die Lehrer und Frau Wegner hatten die Köpfe zusammengesteckt und Notizen verglichen. Jetzt gab Herr Ganzerl die Einteilung bekannt.
Von den Freundinnen hatten die sportliche Alma und Leona, die seit früher Kindheit Ski liefen, am besten abgeschnitten. Sie wurden in die dritte Gruppe eingeteilt. Ihr Trainer war der gutaussehende Sepp Bauer, und sie freuten sich darüber. Sabine kam in die Gruppe sieben und Ilse in Gruppe zehn.
„Sei nicht gekränkt, Ilse“, sagte Herr Ganzerl freundlich, „aber bei dir hapert’s anscheinend ein wenig an den Grundlagen.“
Ilse Moll zuckte die Schultern. „Na, wenn schon. Ich will ja kein Ski-Profi werden.“
„Sicher nicht. Aber es ist doch auch nicht angenehm, sich zu blamieren.“
„Darin sehe ich keine Schande.“
„Um so besser! Also ab zu den Idiotenhügeln!“
Jetzt erst begriff Ilse, was ihr passiert war. Sie: durfte nicht mit dem Lift nach oben fahren, sondern sollte jedesmal mühsam einen kleinen Abhang hinaufkraxeln, ehe sie abfahren konnte. „Nein!“ schrie sie. „Das können Sie mir nicht antun!“
Bei ihrem Sturz hatte sich der Rest Schminke verwischt. Mit einem Papiertaschentuch, das Alma ihr gegeben hatte, hatte sie ihn abgerieben. Ihre sorgfältig gelegten Locken hatten sich durch die Nässe in winzige Kringel verwandelt. Sie bot einen erbarmungswürdigen Anblick.
Obwohl die Freundinnen sich oft genug über Ilses anmaßendes Getue geärgert hatten, empfanden sie plötzlich Mitleid mit ihr. Sie waren froh, daß sich die einzelnen Gruppen zu sammeln begannen und sie sich zurückziehen konnten.
„Glaub mir, es ist so das beste“, sagte Herr Ganzerl, ohne sich aus der Ruhe bringen zu lassen. „Gerade für dich wird es gut sein, das Aufsteigen und Aufstehen und Kniebeugen zu wiederholen.“
„Ich fahre seit meinem fünften Lebensjahr!“
„Ja, das dachte ich mir. Gerade wenn man sehr früh angefangen hat, kann es passieren, daß man sich später einen schlampigen Stil angewöhnt. Also mach schon. Ich muß mich um meine Gruppe kümmern.“
Ilse versuchte es mit ihrem weiblichen Charme. „Lieber, guter Herr Ganzerl“, schmeichelte sie und warf ihm aus ihren babyblauen Augen einen schmachtenden Blick zu, „ich weiß doch, Sie sind Kavalier! Sie werden doch nicht im Ernst …“ Sie schob ihren Busen vor. „ … schon altersmäßig passe ich doch nicht in die Gruppe zehn.“
„Du wirst dort einige finden, die schon erheblich älter sind als du und …“, fügte er nach einer kleinen Pause hinzu, „ … reifer.“
Ilse verlor ihre Fassung. „Das ist die reinste Schikane von Ihnen!“ schrie sie. „Ich werde mich beim Direktor beschweren!“
„Einverstanden. Aber nicht jetzt. Jetzt wirst du zum Idiotenhügel abmarschieren.“
Ilse hatte gute Lust, diesem Befehl zu trotzen. Aber dann brachte sie doch nicht den Mut auf. Sie hatte in ihrem jungen Leben die Erfahrung gemacht, daß sie bei Zusammenstößen mit Erwachsenen zum guten Schluß doch immer nur den kürzeren zog. Hinzu kam, daß sie sich ihrer ramponierten Erscheinung bewußt und dadurch verunsichert war.
Also gehorchte sie zähneknirschend.
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