Jacks Körper scheint in sich selbst zu ruhen, obgleich er aussieht, als wollte er sich ständig bewegen. Als sei der Zwang, still stehen zu müssen, etwas äußerst Zufälliges. Bald ist sein Körper wieder bereit, sich zu straffen, um die Welt in Besitz zu nehmen. Das hier ist kein Mann, dessen Nerven bloßliegen. Das ist ein Mann, der jede Nacht seine acht Stunden schläft, selbst nach fünf Stunden ist er nett und angenehm, und am Abend würde er es nicht einmal schaffen , das Vaterunser zu beten. »Ausgeglichen«, hätte Sam gesagt, vielleicht eine Spur von Neid in der Stimme. Er erscheint mir so frisch und gesund, daß ich meinen Schritt verlangsame. Was kann ein solcher Mann anderes tun, als mich an meine Mängel zu erinnern, an die Jahre der Isolation und der fehlenden Liebe? Sowie an sechsundachtzig schlaflose Nächte.
Doch da sieht er mich. Er macht eine Bewegung mit den Händen in meine Richtung, beinahe wie Martin es immer tat, wenn er mich kommen sah, kurz bevor er die Arme in die Luft streckte, damit ich ihn hochnahm. Es ist eine winzige Bewegung des Willkommenheißens, aber sie genügt, um meine Hand instinktiv zum rechten Ohr zu führen. Nein, nicht so etwas. Hilfe brauche ich. Ein albernes Lächeln wie in der Bibliothek, weiter werde ich nicht gehen.
Dennoch weiß ich Bescheid. Wie lange dauert es, bis man weiß, daß man einen anderen küssen will? Den Bruchteil einer Sekunde. Hitze im Bauch, es ist, als zöge sich die Gebärmutter zusammen.
»Savanna Brandt«, sagt er leise lächelnd.
Mehr ist nicht nötig, da sein ganzes Gesicht geradezu von innen leuchtet, eine schlecht verborgene Freude in seinen Augen. Irritiert denke ich: Was hat er für einen Grund, so froh auszusehen? Woher diese Ausstrahlung, so etwas vererbt sich doch nicht. Mach dich nicht lächerlich .
»Sie sind Jack«, stelle ich nur fest.
Wir gehen in eine Bar in der Nähe. Ich nehme mir vor, mich an die Fakten zu halten. Person und Sache zu trennen. Außerdem ist er Polizist, wenn auch in Zivil. Er will wissen, was passiert ist, als Geste gegenüber seinem toten Vater.
Doch das will er ganz und gar nicht, er will über andere Dinge reden. Ich glaube, er will sich einmal richtig aussprechen. Warum er mich dafür ausgewählt hat, ist mir unbegreiflich.
»Meinen Vater haben oft Frauen angerufen«, beginnt er unbekümmert. »Oh, nicht so . Er hatte den Ruf, bei Frauen gut anzukommen. Aber nicht deshalb riefen sie an«, sagt er und sucht meinen Blick zur Bestätigung. »Sie riefen an, weil sie sich Schutz erhofften, eine Möglichkeit der Hilfe und eine Freistatt. Wenn sie anriefen, waren sie schon jenseits der heftigen Verzweiflung, sie steckten in einer Sackgasse. Mein Vater wußte etwas darüber, wie man da wieder rauskam. Offenbar sprach sich das herum, denn sie riefen immer öfter an. Mißhandelte Frauen aus dem ganzen Bezirk. Man sagte, er höre sich ihre Geschichten an und könne helfen. Und daß man mit ihm reden könne, obwohl er ein Mann sei. Ich meine, daran ist nichts Falsches, aber in diesem Fall hier ...«
Ich versuche aufmunternd zu lächeln.
»Nun ja, oft konnte er ja nichts anderes tun, als ihnen die Nummer der Frauennothilfe zu geben und sie aufzufordern, ihre Verletzungen im Krankenhaus dokumentieren zu lassen, vielleicht daß sie es auch wagten, den Mann anzuzeigen. Wie viele von diesen Männern wirklich verurteilt wurden, hat er nicht erzählt. Ich glaube, es ist ihm viel zu nahegegangen, als daß er darüber hätte reden können.«
Unsere Getränke werden gebracht, er hatte auf Cocktails mit bunten Papierschirmen bestanden, weil er »sich in diesem Sommer keinen Urlaub gönnen kann«. Wir fingern verlegen an der Verzierung herum und bestellen etwas zu essen, denn ich bemerke voller Überraschung, daß ich hungrig bin.
»Als Sie angerufen haben, glaubte ich, Sie seien eine dieser mißhandelten Frauen. Eine, die nicht wußte, daß Vater gestorben ist. Ich konnte die Frau, konnte Sie doch nicht einfach am Telefon hängenlassen. Es kostet so viel Kraft, um Hilfe zu bitten, da kann ich Sie nicht einfach weiterverweisen. Ohne zu überlegen, habe ich es wie Vater gemacht, fragte genauso, wie er es tat. Ich habe nicht einmal darüber nachgedacht. Der Einfluß über Jahre ...«, sagt er und sieht plötzlich gerührt aus.
Dieser Mann hier hat offenbar keinerlei Kontaktschwierigkeiten und ist ohne jede Scheu. Man steckt sofort mitten im Gespräch. Wir nehmen beide einen großen Schluck zwischen den Schirmen.
»Ich habe ihn so oft gehört. Das erste Mal, als ich vielleicht vierzehn war, kurze Zeit nachdem diese Frau mit Namen Weller in seinem Bezirk ermordet worden war. Vielleicht 1973? Aber ich habe nicht gedacht, daß ich selbst anfangen würde, so zu reden wie er.«
»Vielleicht war Ihr Vater wirklich ein Mann, der bei Frauen gut ankam?«
»Wie bitte?«
»Im buchstäblichen Sinn des Wortes.«
»Möglich«, erwidert er. »Aber manchmal frage ich mich, was ihn trieb. Er mußte eine ganze Menge Spitzen einstecken.«
»Weichling?«
»Und anderes.«
»Damit konnte er vielleicht leben?«
»Sicher konnte er das.«
»Aber was hat ihn nur getrieben?«
Es scheint nicht oft vorzukommen, daß er sich unterbricht, doch wenn er es tut, dann voller Nachdenklichkeit. Er sagt, leicht überrascht, so als käme er erst jetzt zu dieser Einsicht: »Ich glaube, er hat es nicht ertragen, sie leiden zu sehen.«
»Nein«, sage ich und denke an Paulina Weller, die Fotografie auf David Fawlkners Schreibtisch und an mein eigenes inneres Bild, das rotbraune Haar unter dem Laken.
»All diese Spektakel in den Wohnungen und das Gerede von Gewalt in der Familie. Was Vater sich fragte, war: Kann man von Gewalt in der Familie sprechen, wenn nur einer prügelt?«
Wir bestellen zwei neue Drinks, deren Schirme wir zwischen den Fingern drehen: »Ist genauso gut wie Nachtisch, bestimmt.«
»Was wollten Sie von meinem Vater?« fragt Jack.
Wir haben gerade das Essen beendet, bei dem ich sein Alter (achtunddreißig), seinen Beruf (Kriminalinspektor, zehn Jahre im Dienst), seine Interessen (Sport treiben! tja) und seinen Familienstand (geschieden, keine Kinder) erfahren habe.
»Wieso wollte?«
»Die meisten haben einen Grund für ihren Anruf.« Er lächelt herzlich.
»Ja, ja«, fauche ich.
Ich begreife, es ist, weil er Sam ähnelt: dieselbe Fähigkeit, Ablenkungsmanöver zu durchschauen, und das Ausbleiben ironischer Kommentare.
Ich kaue an einem Nagel herum und wende mich irritiert zum Fenster.
»Es war nichts. Ganz unwichtig.«
»Nur ein nettes Essen«, sagt er. »Nach einem sonderbaren Telefongespräch.«
»O nein. Nicht wegen dem netten Essen. Ich meine, es war nur so, daß ich Hilfe brauchte.«
»Brauchte?«
»Jetzt hat sich die Sache gelöst.«
Schweigen. Er streckt seine langen Beine unter dem Tisch aus, lehnt sich zurück, seine Füße berühren die meinen. Ich ziehe meine Beine zurück.
Er hat jetzt die Hände im Nacken verschränkt, sein Blick in meinem. Er wartet. Dieser Arm, dunkelbraun an der Oberseite, hellere Haut unten. Der Mund wird mir trocken, ich fühle mich den Tränen nahe. Bin ich an der Reihe, das Gespräch zu übernehmen? Oh, Sam, ich kann nicht. Aber Jack ist schnell. Er beugt sich plötzlich vor, faßt meine Hände, zieht sie in einer einzigen langen Bewegung über den Tisch zu sich. Und sagt: »Erzähl jetzt.«
Ich erzähle alles. Die Schritte, die Schlaflosigkeit, die E-Mails, die Gedanken an Paulina Weller, die Begegnung mit seinem Vater David, die Visitenkarte unter dem Kopfkissen, meine Angst, weil jemand nachts draußen vor der Tür ist. Die ganze Zeit hört er mit größter Aufmerksamkeit zu.
Als letztes sage ich: »Ich glaube, jemand will mich töten, aber ich weiß nicht, warum«, doch erst ein Weilchen später verstehe ich das Gesagte wirklich.
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