Den Beschluß bildete an diesem Tage Fräulein Glut, Mimi Glut. Ohne eigene Ambitionen in bezug auf die Kunst des Klavierspiels, gehorchte sie dem Gebot ihrer Eltern, die der altmodischen Ansicht huldigten, eine gewisse Fertigkeit auf dem Klavier lasse ein junges Mädchen begehrenswert erscheinen. Dabei gab sich Mimi Glut durchaus keinem Irrtum hin, wenn sie sich auch ohne dies begehrenswert fand. Schwarzlockig, mit Mandelaugen und dem törichten Lächeln eines Mannequins hatte sie alle Aussicht auf Erfolg beim männlichen Geschlecht.
Sibylle war fertig. Sie beschloß, auszugehen und bei dem Geschäft, für das sie arbeitete, nachzufragen, ob etwas von ihren Sachen verkauft worden sei. Ein Blick in die Zigarettenschachtel, darin sie ihr Haushaltungsgeld aufbewahrte, hatte sie belehrt, daß wieder einmal Ebbe drohte.
Sie setzte vor dem Spiegel den Hut auf. Polster, seine Chance witternd, sprang jaulend und kläffend an ihr hoch, er rannte in dem kleinen Flur hin und her und gebärdete sich wie ein Besessener.
„Hundsviech, greisliches“, schalt die Natter im Komparativ, während Alexanders Kopf, rot wie eine Päonie, aus der Tür fuhr.
„Ruhe!“ donnerte er. Sibylle hatte ihn im Verdacht, daß seine ganze Verzweiflung über Herrn Dimpflinger sich in diesem Ausruf entlud.
Draußen flutete ihr heller Sonnenschein entgegen. Die häßlichen Häuser waren freundlich übergoldet, eine Ölpfütze am Straßenrand spiegelte die Sonne in allen Regenbogenfarben wieder. Es war einer jener Föhntage, die auf eine beglückende Weise über das wahre Gesicht der Jahreszeit hinwegtäuschen.
Neben dem trübseligen Café an der Ecke betrieb die Witwe Penzkofer einen Obst- und Gemüseladen. Sie stand, an etwas Grauwollenem strickend, in der Ladentür und grüßte freundlich.
„Frische Orangen hättn mer do! Geht nix ab, Frau Birk?“
„Danke, nein“, sagte Sibylle, bemüht, Polster an sich zu locken, der im Begriff war, einen mit Kartoffeln gefüllten Korb neben der Ladentür als Laternenpfahl zu benutzen.
„Ja, der Polster“, sagte die Penzkoferin wohlwollend, „da geh her, Polsterl, i hob was für di.“
Sie brachte aus der Tiefe des Ladens ein fettig glänzendes Päckchen mit Wurstresten zum Vorschein; der Hund machte sich gierig darüber her.
„A Wetter is dees heit!“ nahm sie die Unterhaltung wieder auf, „da mecht mer fei a spaziern gehn.“
Sibylle fühlte den dunklen Drang, sich zu entschuldigen, weil sie am hellichten Alltag den Anschein sorglosen Lustwandelns erweckte. Aber just in diesem Augenblick geriet Polster in Händel mit einem pudelähnlichen Hund, der die Absicht kund tat, sich an den Wurstresten zu beteiligen. Sibylle hatte alle Mühe, die streitenden Parteien zu trennen.
„Er ist rauflustig“, sagte sie verlegen, nachdem Polster an die Leine genommen war, „aber wenn ich ihn daheimlasse, stört er meinen Mann bei der Arbeit.“
„Jo freili, der Herr Birk“, erwiderte die Witwe verständnisvoll, obwohl sie in ihrem umfangreichen Busen eine tiefe Verachtung nährte für Künstler und ähnliches „G’schwerl“, das dem lieben Herrgott die Tage stehle.
„Leicht tut sich die Frau Birk nicht mit dem spinneten Uhu“, hatte sie eines Tages zu ihrer Tochter geäußert und nach einer gedankenvollen Pause hinzugefügt: „Aber a schöner Mensch is halt!“
Sibylle wanderte stadtwärts. Sie atmete mit Entzücken die milde Luft, sie freute sich am lichten Grün der Theatinerkuppeln vor der blauen Kulisse des Himmels. Zwischen der Ludwigskirche und dem pompösen Bau der Staatsbibliothek gab es hinter Bogengängen einen kleinen Hof mit alten Bäumen; jedesmal, wenn Sibylle daran vorbeikam, dachte sie, so müsse es in Italien sein. Sie stellte sich Italien unbeschreiblich herrlich vor, dank den Erzählungen ihres verstorbenen Vaters, der alljährlich hinuntergefahren war, ohne sie jemals mitzunehmen. Sibylle war indessen in der Obhut von Fräulein Rosina Schupfinger zurückgeblieben. Rosina, ein ältliches Mädchen mit einem Pferdegesicht, betreute sie und den Vater mit der gleichen grämlichen Sorgfalt. Sibylle hatte ihre Mutter nie gekannt, aber Rosina tat, was sie konnte, sie die mütterliche Liebe nicht vermissen zu lassen. Ihre Zärtlichkeit war rauh und stachlig, so, als schäme sie sich ihrer. Aller Wahrscheinlichkeit nach war sie schon mit zwanzig ein altes Mädchen gewesen und hatte die Liebe niemals kennengelernt. Alles, was ihr unerschlossenes Herz an Güte barg, schenkte sie Sibylle. Es war für Sibylle, als verliere sie die Mutter zum zweiten Male, als sie sich nach dem Tode des Vaters von Rosina trennen mußte, weil die Verhältnisse sie zwangen, die Wohnung aufzugeben. Rosina hatte bald darauf auf Grund einer Zeitungsannonce einen Oberpostsekretär geheiratet und lebte seitdem in Pirmasens. Von Zeit zu Zeit bekam Sibylle kleine, karge Briefe von ihr, die sie lächeln machten, weil Rosina nicht aufhören konnte, sie als Kind zu behandeln. „Ziehe dich nicht zu leicht an bei dem kalten Wetter“, hieß es in den Briefen, „du weißt, wie schnell du einen Schnupfen hast.“ Oder: „Hoffentlich achtet dein Mann darauf, daß du nicht zu wenig ißt —“ Gute Ros’l! Zärtlich geliebte Erinnerung an Kindheit und Vaterhaus!
Am Hofgartentor angelangt, konnte Sibylle der Versuchung nicht widerstehen, einzutreten und nachzusehen, ob schon Tische und Stühle herausgestellt waren für die Unentwegten, die beim ersten Sonnenstrahl ihren Kaffee im Freien trinken wollten. Vielleicht gab es auch schon Krokusse und Leberblümchen auf den Rasenflächen.
Sie schlenderte, Polster an der Leine, die Wege entlang. Nein, es war noch nichts mit Krokussen und Leberblümchen; die Rabatten, auf denen es im Sommer in allen Farben blühte, glänzten schwarz und feucht, und der Musiktempel mit der graziösen Diana auf dem Dach steckte noch in seiner hölzernen Winterverschalung. Aber ein paar Tische standen tatsächlich draußen, und an einem von ihnen saß, die Beine weit von sich gestreckt, den weichen Hut genießerisch ins Genick geschoben — —
„Andi!“ rief Sibylle überrascht.
„Hallo, Billie!“ Andreas Keller stand auf und kam Sibylle entgegen. Er war ein breitschultriger, gut aussehender Bursche mit einer Vorliebe für englische Sportsakkos und starkfarbige Krawatten. Sein krauses, blondes Haar hatte die Neigung, widerspenstig vom Kopf wegzustehen, eine Neigung, der Andreas entgegenkam, indem er bei jeder Gemütsbewegung mit allen Fingern hineinfuhr. Innenarchitekt von Beruf, begabt und fleißig, freundlich und zuverlässig, erfreute er sich großer Beliebtheit und war auf dem besten Wege, es zu Erfolg und Ansehen zu bringen.
Sein gutmütiges Gesicht erglänzte in einem breiten Grinsen, während er Sibylle unter vielen Hallos die Hand schüttelte.
„Ein guter Engel führt dich mir in den Weg“, behauptete er, „trinken wir einen Vermouth zusammen! Wenn man zwei Stunden lang mit Frau Direktor Nothnagel verhandelt hat, ist man trost- und stärkungsbedürftig.“
„War es so schlimm?“ erkundigte sich Sibylle teilnahmsvoll.
Sie ließen sich am Tisch nieder, Andreas bestellte den Wein.
„Schlimm ist gar kein Ausdruck“, sagte er. „Es ist eine Art Fegefeuer, ich weiß nicht, womit ich es verdient habe. Seit Wochen geht das nun hin und her, ich mache einen Entwurf nach dem anderen, aber sie ist phantasielos wie eine Kuh —“
„Aber Andi! Eine würdige, ältere Dame!’
„Wozu fragen die Leute einen Innenarchitekten, wenn sie sich nicht von türkischen Rauchtischchen und wollenen Schlummerrollen trennen können?“ rief Andreas aufgebracht.
Sibylle lachte. Der Vermouth schmeckte süß und aromatisch, es war herrlich, in der Sonne zu sitzen und sich vorzustellen, es sei Frühling. Sie nahm den Hut ab, ein sanfter Wind spielte in ihrem kurzen Haar.
Andreas betrachtete sie sinnend durch eine Wolke von Zigarettenrauch.
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