Herman Bang
Sommerfreuden
Erzählung
Saga
Frau Brasen wollte auf alle Fälle noch einen Rundgang durch das Haus machen. Es konnten doch immerhin — man wusste es ja nicht — heute Sommergäste kommen, zu Mittag, mit dem Wagen. Und fertig wurde man wahrhaftig nie, und dies und jenes fehlte immer, wenn man sich auf die Mädchen und auf Brasen verlassen musste. Gestern die Zuggardinen, da hingen sie und waren an den Nähten bloss einfach zusammengeheftet.
Frau Brasen stand von ihrem Holzstuhl am Küchentisch auf — der Stuhl war etwas wackelig auf den Beinen — und besah all die belegten Butterbrote. Ja, was gebraucht wurde, das war eine bestimmte Ration, jeden lieben Tag. Das war mal so in diesem Geschäft, gleichviel was einkam, das sagte Brasen auch. Frau Brasen blieb vor den Butterbroten des Personals stehen: „Und man streicht sie doch, wie man kann.“ Frau Brasen seufzte — sie waren dünn gestrichen —: „Aber man hält ja aus, solange es geht,“ sagte sie. Frau Brasen ging durch die Küche und öffnete das Schiebefenster in der Tür zur Wirtsstube. „Bist du da, Brasen?“ fragte sie.
„Ja, Jansine,“ sagte Brasen.
„Gut,“ sagte die Frau und sah zu ihrem Mann hinein, der mutterseelenallein neben seinem eigenen Büfett sass und seine eigenen kurzen Beine besah. „Also gibst du auf die Kasse acht,“ sagte die Frau und schloss das Schiebefenster. „Die Kasse“ war Frau Brasens Gedanke bei Tag und bei Nacht, die „Kerls“ stibitzten, was sie konnten, einer wie der andere. „Die Kerls“ waren die Kellner, und die „Kasse“ war eine offene Lade im Büfett. — Aber sie hatten auch rechtes Pech mit ihnen, und bekam man einmal einen ordentlichen Menschen, dann blieb er doch nicht — da konnte es schon egal sein.
Frau Brasen ging über den Hof durch das Tor, wo Nielsen, der Hausknecht, kehrte. Nielsen war bei der Artillerie gewesen, hatte die Mütze im Nacken und rauchte Zigarren bei all seinen Beschäftigungen. Frau Brasen sagte guten Morgen, und Nielsen nickte zurück, während er eine Staubwolke hinter der Frau aufwirbelte, die auf die Strasse hinausging, mitten aufs Pflaster.
Die Schatten der Häuser zeichneten sich so bekannt und scharf ab; sie kamen und verlängerten sich und verschwanden, immer in derselben Form. Es war, als brauchte man hier in der Stadt überhaupt keine Uhren, so auf die Stunde genau verschoben sich die Schatten. Frau Brasen ging die Gasse hinunter. Die Ladentüren waren schon offen, und die Kommis warteten, an die Türpfosten gelehnt, mit übergeschlagenen Beinen. Frau Brasen — sie war einmal recht stattlich gewesen, mit einer Figur, wie sie sein soll, von der Art, an die die Männer ihre Augen hängen — nickte auf ihrem Wege jedem einen guten Morgen zu. Die Kommis rührten sich nicht. Frau Brasen hatte das Gefühl, als ob ihre Augen, die ihr folgten, sie in den Rücken stächen. Es war nicht das Richtige, wenn man überall etwas schuldig war. Aber ausser dem Kunstmaler wollte ja auch der Doktor es partout haben und hatte das Seine dazu getan; und Brasen, der war ja leicht rumzukriegen, und die Leute in der Stadt, die schoben natürlich nach, damit es zustandekommen sollte; und nun spielten sie sich auf, während Brasen, der arme Kerl, in der Tinte sass; und weiss Gott, was für Sommergäste in so ein kleines Nest kommen würden, wenn man auch annonciert hatte ... Sie hatte es ja immer gesagt, aber Brasen, der wollte ja durchaus, sie kannte Brasen ja, zuerst war er Feuer und Flamme, und hinterher sass er da ...
Frau Brasen kam zur Dependance und ging durch das Tor hinein. Die Steine im Torweg waren holperig. Sie hob die Beine, um in die Diele hineinzukommen, die alten Türschwellen waren hoch. Und sie sah hinein durch all die leeren Zimmer, wo die gleiche hellblaue Tapete von allen Wänden schimmerte; sie war auf der Auktion beim Glasermeister gekauft, als er im Februar Konkurs gemacht hatte. Frau Brasen ging von einem Zimmer ins andere. Ja, nun war alles in Ordnung. Und sie blickte über Tische und Betten hin — es waren die dünnsten Eisenbeine, die je eine Bettstelle getragen hatten —, und sie zählte die Handtücher, die an Nägeln je zwei und zwei an den Wänden hingen und wie Wischtücher aussahen. Frau Brasen hob sie in die Höhe und drehte sie um: sie waren auf der Rückseite ganz blau. Die Glasermeistertapete färbte ab. Aber da waren nun jedenfalls acht Betten mit Rosshaarmatratzen, jetzt, wo sie ihre eigenen noch dazugenommen hatte. Für Brasen würde es wohl schwer sein, auf der Seegrasmatratze zu liegen, wo er so wohlbeleibt war. Aber das half nichts. Ihre Bettdecken konnten sie auch nehmen. Es waren doch gestrickte, und es war gewissermassen, als füllten sie ein Bett mehr aus. Alles, was sie bei Rists gekauft hatten, hatte keine rechte Kraft. Frau Brasen kam in die Vorderzimmer, wo die Sonne auf dem breiten, unbetretenen Fussboden lag. Ihre Augen, die morgens immer tränten — das kam davon, dass sie jede Nacht in der Speisekammer sass und wartete, bis sie zumachten —, sahen über alles hin: da war das Papier wieder unter dem Tischbein herausgeglitten. Sie schob es auf seinen Platz, bevor sie sich einen Augenblick auf das Sofa setzte, das schmutzig blau war und nicht zu den Tapeten passte. Sie war so müde, und dann hatte sie immer einen Schmerz über den Hüften, seit damals, als sie Aage bekommen hatte: Und Gott weiss — sie dachte plötzlich an die Kinder —, wie es nun mit dem Lernen ging, wo sie nie hinter ihnen her war. Mit Signe ging es ja noch, aber Martin, der schlug mehr nach Brasen und konnte nicht recht lernen. Sie dachte plötzlich an Martins Hemdkragen. Nun hatte sie ihn nicht angenäht, und die Leute in der Stadt beklatschten sie immer, sie hielte die Kinder nicht ordentlich. Frau Brasen blieb sitzen: Es war doch ausgerechnet, sie würden hundertundachtzig Kronen täglich haben, wenn es voll wurde — ausser den Getränken. Aber es kam ja auch darauf an, ob Leute dabei waren, die etwas ausgaben, wie auch Brasen sagte. Aber nun würde es sich ja zeigen.
Frau Brasen stand auf, und sie ging wieder durch die Zimmer, hinaus über den Hof und in den Garten hinein. Langsam ging sie weiter zwischen den grossen Johannisbeerbüschen, die beinahe zu Bäumen geworden waren. Im mittleren Gang stand Grossmutter über ihre Harke gebeugt. Die Alte, die barhäuptig war, liess sich in ihrer Arbeit nicht stören. Ihre rechte Schulter hatte sich während des achtzigjährigen Abrackerns weiter vorgeschoben als die linke. Frau Brasen blieb stehen. „Ja, du bist flink, Grossmutter,“ sagte sie, und ihre Stimme klang anders als gewöhnlich.
„Man wird alt,“ sagte Grossmutter und hob den Kopf nicht. Frau Brasen blieb stehen und sah sie an.
„Aber du bist stark, Grossmutter,“ sagte sie. Ihre Augen tränten plötzlich noch etwas mehr. Sie dachte mit einem Male — sie wusste selbst nicht, was heute morgen mit ihr los war, ihre Gedanken machten so wunderliche Sprünge — an die Stuben daheim auf dem Bauernhof in Tönder, wo Grossmutter alles so blank und fein hielt, dass das alte Haus nur so glänzte. Abends sass sie vor ihrer Tür und blickte über ihre grünen Felder hin. Der Boden in Tönder war so fruchtbar, und es war weit bis zu Grossmutters Feldscheide.
Die Alte hob den Kopf. Ihr Gesicht war wie das von Leuten, die entweder taub geworden sind oder das Geschwätz der Menschen nicht mehr mit anhören mögen. „Aber hier ist es schön,“ sagte sie, und es war beinahe, als lächelte sie.
„Ja, Mutter,“ sagte Frau Brasen, die sich auch hier draussen unter all dem vielen Grün immer ein bisschen heimischer fühlte. Die Alte bückte sich wieder, und wieder hörte man das Knirschen der Harke auf der Erde, während Frau Brasen weiterging.
Sie hatte plötzlich einen Schreck bekommen: der Schlächter war gewiss da, und man musste vorsichtig sein, wenn man Schulden hatte. Man konnte ihn nicht warten lassen. Frau Brasen lief beinahe die Strasse entlang nach Hause.
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