»Der kommt mir nicht aufs Grundstück! Ich werde das Tor verschließen. Und wenn er über den Zaun zu klettern versucht, kriegt er’s mit den Hunden zu tun … «
Kim atmete tief durch. »Mann, ich bin so froh! Ich weiß echt nicht, wie ich dir danken soll, Stevie.«
»Dann lass es bleiben.«
Ich wusste schon, dass er es nicht mochte, wenn man sich bei ihm bedankte.
Verlegen fügte Kim hinzu: »Nur … ehrlich gesagt kann ich dir nichts dafür geben. Ich hab kein Geld.« An der Art, wie ihre Kinnmuskeln sich spannten, erriet ich, wie schwer es ihr fiel, das einzugestehen. »Aber ich bringe Hafer und Karotten vorbei«, fügte sie hinzu. »Auf dem Fahrrad, heimlich. Das geht schon irgendwie.«
Sie musterten sich wie zwei Indianer, die zu stolz sind, um Geschenke voneinander anzunehmen.« Ich will kein Geld!«, erwiderte Stevie. »Aber das mit dem Hafer ist okay.«
»Natürlich komm ich jeden Tag und versorge Flora. Und ich kann dir auch mit deinen Pferden helfen.«
»Ich komme schon klar.«
Sie verstummten. In das Schweigen hinein murmelte ich: »Könnte ich mal telefonieren? Meine Eltern warten auf mich und ich schaff’s nicht, rechtzeitig zum Abendessen in Ravensnest zu sein. Sie machen sich sonst Sorgen.«
Stevie zögerte einen Augenblick. Dann deutete er mit einer Kopfbewegung zur Tür. »Das Telefon steht in der Halle, gleich links.«
Im Haus herrschte ein wildes Durcheinander. Es roch wie in einem Raubtierkäfig. Der Flur, den Stevie »Halle« nannte, war lang und düster und total überfüllt mit Möbeln, Stiefeln, Decken, Hundekörben, Katzenkörben, Eimern, Kartons, Truhen, aus denen Klamotten hervorquollen, vollen und halb vollen Säcken. An den Wänden hingen Pferdegeschirre, Sättel, Regenmäntel, Hüte und Overalls.
Es war nicht leicht, in dem Durcheinander das Telefon zu finden, das zwischen einem Stapel Zeitungen, Arbeitshandschuhen, einer aufgeplatzten Tüte mit Äpfeln und einer Tube Ohrensalbe für Hunde auf einem wackligen Tischchen stand.
Während ich den Hörer abnahm und die Nummer von Ravensnest wählte, kletterte eine graue Katze aus der Kleidertruhe, starrte mich erschrocken an und verschwand durch eine angelehnte Tür. Dann tauchte Daisy unter einem Polstersessel auf, sprang über einen Pappkarton und kletterte am Vorhang hoch, ließ sich auf der Vorhangstange nieder, hob ihre Vorderpfötchen und begann an einer Nuss zu nagen.
Ich hielt mich nicht lange mit Erklärungen auf. »Es wird später«, sagte ich zu meiner Mutter, die das Telefon abnahm. »Wartet nicht mit dem Essen auf mich.«
»Wo bist du?«
»In Little Eden, bei Stevie Trelawny. Kim hat Flora zu ihm gebracht. Warum, erklär ich dir später. Ihre Familie darf nichts davon wissen.«
»Aha. Soll ich euch holen?«
»Nein, aber es wird einige Zeit dauern. Kim ist zu Fuß. Wir nehmen den Klippenpfad. Ich führe Kringle am Zügel. Er ist ja nicht an so lange Ritte gewöhnt.«
Mama sagte: »Wartet auf mich. Ich komme mit dem Hänger und hole euch ab.«
Ich wollte erst wieder Nein sagen, doch dann fiel mir etwas ein. »Okay, danke, Mama. Und bringst du bitte etwas Futter für die Pferde mit? Kim muss sonst alles mit dem Fahrrad hierher transportieren.«
Als ich aus dem Haus trat, war der Hofplatz leer. Aus dem niedrigen Stallgebäude, das an die Giebelwand des Hauses angebaut war, hörte ich Gepolter und dazwischen Kims helle Stimme.
Ich wartete eine Weile. Kringle wieherte ungeduldig am Gatter. Eine der Rabenkrähen flog vom Dach, flatterte ein paar Runden über mir, versuchte sich auf meiner Schulter niederzulassen, drehte dann ab und landete auf einem Fensterbrett. Von dort beobachtete sie mich mit glitzernden Augen und schief gelegtem Kopf.
Dann kam Dreadlocks angetrottet und wollte gekrault werden. Zwischen all den verfilzten, gedrehten Locken sah ich kaum etwas von seinem Gesicht. Ich knetete seine Ohren, was ihm total gefiel, denn er schnaufte selig und stupste mich mit der Nase an, sobald ich eine Pause einlegte.
Kim sah müde aus, als sie mit Stevie aus dem Stall kam. Seufzend setzte sie sich auf den Holzstapel und schlüpfte aus ihren Gummireitstiefeln.
»Was machst du?«, fragte ich.
»Ich ziehe meine Stiefel aus, das siehst du doch. Mit diesen Dingern kann ich unmöglich die lange Strecke über den holprigen Weg gehen. Barfuß ist es besser.«
»Wir brauchen nicht zu Fuß zu gehen. Meine Mutter holt uns«, sagte ich.
Die Krähe kam wieder angeflattert und ließ sich auf Stevies Schulter nieder. Zärtlich kraulte er sie mit dem Zeigefinger zwischen dem Gefieder und sie drehte den Kopf und stieß leise knarrende und gurgelnde Geräusche aus. Sofort tauchte eine zweite Krähe aus der Luft auf, versuchte auf Stevies Kopf zu landen, rutschte ab und klammerte sich an seinen ausgestreckten Arm.
Stevie lachte. Schlagartig veränderte sich sein Gesicht, wurde weicher und sanfter und richtig schön – so schön, dass ich mich zwingen musste, ihn nicht anzustarren.
»Das sind Donald und Dagobert«, sagte er.
»Kannst du sie denn auseinanderhalten?«
»Sicher. Sie sehen zwar wie Zwillinge aus, aber wesensmäßig sind sie sehr verschieden.«
»Der Geizhals und der Loser?!«, schlug Kim vor. Dabei kicherte sie ziemlich hysterisch. Ich merkte, wie erleichtert sie darüber war, dass Flora in Sicherheit war.
»Nein. Dagobert ist mutig, richtig waghalsig.« Er deutete mit einer Bewegung seines Kinns auf die Krähe, die auf seiner Schulter saß. »Donald ist eher ängstlich und scheu.« Stevie streifte mich mit einem Blick und fügte im gleichen Atemzug hinzu: »Willst du dein Pony nicht tränken?«
Ich schämte mich, dass ich nicht selbst daran gedacht hatte. Kringle war nach dem langen Ritt sicher durstig. Wie hatte ich ihn nur so vergessen können? Eine Ahnung sagte mir, dass es mit Stevie Trelawny zu tun hatte, auch wenn mir nicht klar war, wieso.
»Dreadlocks« hieß in Wirklichkeit »Puccini«, weil er so herzzerreißend heulen konnte, wie Stevie erklärte. Puccini musste für eine Weile ins Haus, während ich Kringle auf den Hofplatz brachte und einen Eimer Wasser für ihn vom Brunnen holte.
Der Brunnen war altmodisch wie im Märchen vom Froschkönig, von einem runden Mäuerchen umgeben und gespeist von einer unterirdischen Quelle. Man schöpfte das Wasser mit Eimern an einem Strick heraus. Stevie zeigte mir alles; er war jetzt offener und freundlicher, als ich es für möglich gehalten hatte. Vielleicht lag es an Kim. Die beiden kannten sich ja, auch wenn Stevie ein paar Jahre älter war als Kim. Wirklich befreundet waren sie jedenfalls nie gewesen, das wusste ich von Kim.
Während ich Kringle tränkte, fragte ich mich, ob Stevie überhaupt einen Freund unter den Zweibeinern hatte.
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