Wirklichkeiten
Kurd Lasswitz
Inhaltsverzeichnis
Vorwort zur ersten Auflage
Vorwort zur vierten Auflage
I.Die Entdeckung des Gesetzes
II.Von der Weltseele zum Weltäther
III.Weltseele und Naturgesetz
Ins Inn're der Natur
V.Objektiv und Subjektiv
VI.Bewusstsein und Natur
VII.Energie
VIII.Der sogenannte Parallelismus
IX.Das Gesetz der Schwelle
X.Das Gefühl der Freiheit
XI.Gesetze und Ideen
XII.Die Persönlichkeit
XIII.Die Idee der Freiheit
XIV.Die Idee der Zweckmäßigkeit
XV.Die Grenzen des Gefühls
XVI.Religion und Moral
XVII.Religion und Gefühl
XVIII.Religion und Natur
XIX.Religion und Bekenntnis
XX.Weltuntergang
XXI.Wie ist Irrtum möglich?
XXII.Gerade und Krumm
XXIII.Kant und Schiller
XXIV.Unsere Träume
XXV.Von der Mystik
XXVI.Über Zukunftsträume
Vorwort zur ersten Auflage
Wirklichkeiten? Gibt es denn mehr als diese eine, darin wir leben? Aber wenn nun gerade erst in unserem Leben diese Wirklichkeiten zu finden wären – nicht wir in der Wirklichkeit, sondern Wirklichkeiten in uns?
Wirklichkeiten – das soll hier heißen: Bedingungen, die wirksam sind, Bestimmungen, auf denen es beruht, daß die umfassende Macht des denkenden, wollenden, fühlenden Menschengeistes so sein muß, wie sie ist, und doch anders will und dichtet. Es sind Gebiete der Realität, die unser Leben schaffen, tragen, ordnen und – verwirren. Sie müssen wir aufsuchen, trennen, in ihrem Wirklichkeitswerte auseinanderhalten, um uns selbst wiederzufinden in ihrer Einheit, unser Leben in der Idee der Menschheit zu begreifen, in einer Kultur, die sich als Selbstzweck versteht.
Diese Einigung in der Menschheitsidee durch Trennung der wirkenden Gesetze hat der deutsche Geist am Ende des achtzehnten Jahrhunderts vollzogen; am Ende des neunzehnten haben wir keinen Lebenden, dessen schöpferischer Genius den kritischen Gedanken zur richtunggebenden Macht zu prägen verstünde. Mit Aphorismen und geistreichen Gedankenspielen ist es nicht getan; auch nicht mit der autoritativen Fesselung der Gemüter. Die Freiheit der menschlichen Vernunft ist nur zu begreifen und zu stützen durch systematischen Gang des Denkens; auf das eigene Denken müssen wir vertrauen. So versuchen wir, soviel ein jeder vermag, uns selbst zu sammeln und, was wir von unsern Vätern ererbt haben, zu erwerben, um es in der fast unübersehbar gesteigerten Stoffmenge der letzten hundert Jahre wiederzuerkennen und zu besitzen.
Einen solchen Beitrag zum Weltverständnis aus einer kritischen Weltauffassung heraus möchten die »Wirklichkeiten« liefern. Mit dem Streben nach Allgemeinverständlichkeit sind hier Ergebnisse langjähriger wissenschaftlicher Arbeit literarisch zusammengestellt, wie sie sich mir als eine persönliche Lebensansicht gestaltet haben.
Die ersten drei Aufsätze geben eine allgemeine historische Einleitung und gegen Ende des dritten einen kurzen Überblick der Weltanschauung, die das Buch näher begründen will. Diese entwickle ich im Zusammenhange bis zum zwanzigsten Abschnitt. Die letzten Aufsätze enthalten in freierer Anknüpfung weitere Ausführungen einiger Themata, die wie ich hoffe, zur Erläuterung der berührten Fragen nicht unwillkommen sein werden; man wird ihnen daher vielleicht nachsehen, daß ihre Schreibart mehr feuilletonistisch gehalten ist; es erschien mir kein Fehler, wenn dieselben Grundgedanken unter verschiedener Beleuchtung gezeigt werden. Den Artikel über unsere Träume habe ich aufgenommen, weil mir die darin enthaltenen Selbstbeobachtungen nicht ohne psychologisches Interesse schienen.
Die Anmerkungen am Schlusse des Buches berichten über diejenigen meiner bisherigen Veröffentlichungen, die m das vorliegende Buch hineingearbeitet sind, und machen die Teile kenntlich, deren Inhalt bis jetzt noch nicht gedruckt vorlag.
Gotha , im November 1899 Kurd Laßwitz
Vorwort zur vierten Auflage
Da die im März 1908 erschienene dritte Auflage der »Wirklichkeiten« vor Ende des Krieges vergriffen war, die Nachfrage danach aber rege blieb, hat sich die Verlagsbuchhandlung jetzt zur Herausgabe einer vierten Auflage entschlossen.
In der dritten Auflage, die eine Reihe kleinerer Zusätze enthielt, hatte der Verfasser in der Vorrede auf die Ergänzung seiner Ausführungen, durch das zu gleicher Zeit unter dem Titel: » Seelen und Ziele « erscheinende Buch hinweisen können; in der vierten Auflage kann er keinerlei Veränderungen an ihnen vornehmen, so sehr Zeit, Verhältnisse und Anschauungen sich gewandelt haben, da er seit Oktober 1910 nicht mehr unter den Lebenden weilt.
Das Buch in einer unveränderten, von Fehlern freien Ausgabe wieder den Lesern zu übergeben, betrachtet daher die Unterzeichnete als ihre alleinige Aufgabe.
Gotha, im Juni 1920 Jenny Laßwitz
I.
Die Entdeckung des Gesetzes
Wann es war, weiß ich nicht mehr genau, aber ich war bereits so alt, daß ich das Einmaleins ganz gut auswendig wußte, und doch noch ein so kleiner Junge, daß ich mich sehr über die Tüte voll Zuckerplätzchen freute, die ich geschenkt bekommen hatte. Wie viele ich schon davon verspeist hatte, weiß ich nicht mehr, aber an den entschwundenen Genuß knüpfte sich etwas anderes, das ich nicht vergessen habe, weil es mir einen unauslöschlichen Eindruck machte, obwohl es etwas durchaus Selbstverständliches war. Ich kam nämlich auf den nicht fern liegenden Gedanken, nachzusehen, wie viel Plätzchen ich noch übrig habe, und zu diesem Zwecke ließ ich sie auf dem Tische in wohlgeordneten Reihen aufmarschieren, bis sie ein richtiges Rechteck bildeten. Und nun fing ich an zu zählen und war schon bis in die Zwanzig gekommen; da ging jemand am Tische vorüber, warf einen Blick auf meine Schlachtordnung und sagte: »Du hast ja vierzig Stück?« Ich fragte erstaunt: »Wie kannst du so schnell zählen?« »Nun, es sind doch in jeder Reihe fünf, nun zähle ich bloß die Reihen, sind acht, und fünf mal acht gibt vierzig.« Dies imponierte mir ungeheuer, ich traute aber doch nicht recht und zählte weiter; es waren wirklich vierzig. Ich wunderte mich und fragte: »Woher kommt denn das?« Da mir aber niemand mehr Antwort gab, so spielte ich weiter, nahm aus jeder Reihe ein Plätzchen fort und bildete daraus zwei neue Reihen. Nun waren doch bloß noch vier in jeder Reihe, und ich konnte mir nicht vorstellen, wie die Rechnung wieder stimmen könne; aber wahrhaftig, ich zählte jetzt zehn Reihen, und vier mal zehn ist vierzig; das wußte ich. Ich begann je sechs in eine Reihe zu legen, da bekam ich sechs Reihen und behielt vier Stück übrig, die ich passenderweise in den Mund steckte. Nun konnte es doch nicht stimmen? Sechs mal sechs gibt 36; ich zählte nach, und es stimmte wieder! In diesem Augenblicke ging es mir wie eine Offenbarung auf, das unbestimmte Gefühl, daß hier ein wunderbares Geheimnis läge. In diesen Plätzchen – und ich begriff wohl, daß die Operation mit irgend welchen andern Gegenständen auch gelingen würde – steckte eine Macht, der ich nichts anhaben konnte; wie ich die Dinge auch legte, wieviel ich auch fortnahm, sie gehorchten dem Einmaleins. Und was hatte doch das Einmaleins, das so langweilig in meinem Rechenbuche stand, mit den Zuckerplätzchen zu tun? Was konnten sie davon wissen? Ich stellte die Gruppen zusammen, wie ich wollte, und ich rechnete dann in meinem Kopfe, und was ich rechnete, das erwies sich als erfüllt in der Wirklichkeit. Zum ersten Male in meinem Leben war mir das Wesen des mathematischen Gesetzes zum Bewußtsein gekommen. Dies ist mir unvergeßlich; und noch oft hat mich dasselbe Gefühl beschlichen, als ich die Methoden der Algebra und Analysis kennen lernte und sah, wie die verschiedensten Arten, die Rechnung anzuordnen, doch zu demselben Resultate führten. Es ist ein Gefühl der Bewunderung, das uns gefangen nimmt, so oft wir erfahren, wie die Wirklichkeit einem logischen Gedankengebäude sich fügt, sobald wir erkennen, daß die objektive Realität in den Dingen dem Gesetze des Denkens gehorcht.
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