Das ist nun die Voraussetzung, wenn überhaupt Wissenschaft möglich sein soll, daß es eine solche Realität gibt, welche die Übereinstimmung des Denkens mit dem Sein verbürgt. Und das mathematische Gesetz war das erste Beispiel in der Geschichte der menschlichen Erkenntnis, woran man sich überzeugen konnte, daß das Schwanken der sinnlichen Erscheinung von Bestimmungen a priori beherrscht wird, die wir zu erkennen vermögen. Deshalb darf man Platon , soweit nicht schon Sokrates das Vorrecht gebührt, als den Vater der Wissenschaft bezeichnen. Er entdeckte das Recht der wissenschaftlichen Erkenntnis; sie ist ein Verfahren, Realitäten zu erzeugen. Aus dem unbestimmten Erlebnis des einzelnen, aus dem Kampf entgegengesetzter Vorstellungen, aus der Unklarheit widerspruchsvoller Gefühle und wechselnder Stimmungen und Triebe hebt sie heraus ein Gebiet des Gesetzes , schafft sie eine neue Welt, worin nichts gilt, als was sich widerspruchslos zusammenfügt.
Die moderne Naturwissenschaft beruht auf dem Verfahren, den Wechsel der Erscheinungen darzustellen und zu festigen im mathematischen Gesetz. Was wir heute unter Naturnotwendigkeit verstehen, das ist nichts anderes als der Zwang des widerspruchslosen Denkens, der uns nur das als Wirklichkeit anerkennen läßt, was in der Form des allgemeingültigen Gesetzes beschrieben werden kann. Unerschöpflich führen die Sinne neuen Stoff unserm Bewußtsein zu, und ebenso unermüdlich ist die Wissenschaft an der Arbeit, ihn in die Form des Gesetzes einzuordnen und damit den realen Inhalt des Naturgeschehens zu ermitteln. Das ist eine unendliche Aufgabe. Nenn der Inhalt des einzelnen Gesetzes erfordert eine fortwährende Umgestaltung unter dem Einfluß der sich erweiternden Erfahrung; bleibend ist nur der Charakter des Gesetzes, jeden Widerspruch von sich auszuschließen, indem seine Gestalt neuen Erfahrungen sich anpaßt. Die Erde war solange der Mittelpunkt der Welt, als die astronomischen Beobachtungen sich mathematisch durch das Ptolemäische Weltsystem darstellen ließen; als sich Widersprüche zeigten, mußte es dem Coppernikanischen weichen. Die Gewißheit der mathematischen Berechnung hat sich dabei nicht geändert; sondern nur die Voraussetzungen, von denen sie ausgeht, sind andere geworden und haben eine andere Gestalt der mathematischen Darstellung erfordert.
Auch jener Grundgedanke der Naturwissenschaft, die Wirklichkeit der Erscheinungen im mathematischen Gesetz zu sichern, geht auf Platon zurück; und die Entstehung der mathematischen Naturwissenschaft ist in der Tat ein Lebendigwerden platonischer Gedanken. Der machtvolle geistige Umschwung, den wir als Renaissance bezeichnen, ist zugleich die Erneuerung der platonischen Philosophie. Und die bahnbrechenden Denker, die im Beginn des 17. Jahrhunderts die Naturwissenschaft schufen, Galilei und Kepler , fanden ihre Stütze in dem platonischen Gedanken, daß die Realität der Natur in ihrer mathematischen Ordnung zu suchen sei. In diesem Sinne sagt Kepler , daß der Mensch nichts richtiger erkenne als die Größe selbst, und Galilei , daß die Philosophie im Buche des Universums geschrieben stehe in mathematischer Sprache, deren Zeichen Dreiecke, Kreise und andere geometrische Figuren seien. Warum aber, so wird man fragen, mußten zwei Jahrtausende vergehen, seit Sokrates den Giftbecher trank, bis der Scheiterhaufen auf dem Campo dei Fiori um Giordano Bruno flammte, ehe jene Naturwissenschaft entstand, deren Prinzip Platon so deutlich bezeichnet hatte? Dies erstaunliche Problem bis in seine innersten Tiefen zu Verfolgen, das hieße die gesamte Geschichte der Menschheit von Jahrtausenden aufwühlen. Denn im letzten Grunde sind zwar Begriffe und Ideen das Bestimmende in der Entwicklung der Kultur (vgl. Abschnitt XXII), aber die Mittel, wodurch sie in den Trieben und Interessen der einzelnen und der Völker wirken, sind so verwickelt, daß sie schwer, wenn überhaupt, zu durchschauen sind.
Die Erforschung der Natur setzt ein unmittelbares Interesse an der technischen Beherrschung der Natur voraus, denn nur durch dieses spitzen sich die Probleme zu, und das ungeheure Material praktischer Erfahrung wird herangeführt. Technische Probleme waren es auch, welche den äußeren Anstoß zur wissenschaftlichen Untersuchung gaben. Man denke nur an die Bedürfnisse der Baukunst, der Kriegsführung, der Schiffahrt, der Heilkunde. Wer vermag nun zu sagen, inwieweit der Mangel an naturwissenschaftlichem Interesse durch die soziale Entwickelung der Menschheit bedingt war? So lange eine kleine Anzahl von Herren durch die Arbeit der Sklaven ihre Muße gesichert sah, mochte wohl in den Spitzen der Menschheit eine hohe intellektuelle Kultur zur Blüte gelangen können. Aber für sie lag nicht das Bedürfnis vor, die Kräfte der Natur in umfassender Weise in den Dienst der Arbeit zu stellen, die Natur in dem Maße zu beherrschen, daß durch die Erweiterung der Machtmittel der Menschheit immer weitere Kreise auf eine höhere Bildungsstufe gehoben werden konnten. Es liegt daher der Gedanke nahe, daß für die Kultur der europäischen Menschheit erst jene höhere sittliche Aufgabe zu lösen war, die Gleichberechtigung der Menschen zum Bewußtsein zu bringen, wie sie in der Grundidee des Christentums enthalten ist. Nicht die Unterschiede der Macht, des Besitzes, der Bildung, der Abstammung, der Nationalität sind es, die den Wert des Menschen bestimmen, sondern allein die gute Gesinnung, die sittlich-religiöse Kraft der Persönlichkeit, der Glaube an die Liebe Gottes, vor dem alle gleich sind, die in seinen Wegen wandeln. Diese sittlich-religiöse Erziehung der Menschheit mußte erst zu einem gewissen Ziel kommen, ehe die intellektuelle Kultur aufs neue einsetzen konnte, um nunmehr unter dem Bewußtsein der Verpflichtung zur gemeinsamen Arbeit die Menschheit auf eine höhere Stufe zu heben. Gutenberg, Coppernikus, Columbus, Luther bezeichnen den Umschwung in den Mitteln der neuen Kultur; nun erst ward die Bevormundung des Geistes gebrochen und die Erde dem Menschen zum neuen Eigentum gegeben; und nun gelang es auch den Denkern, die Stelle zu finden, an der die Erscheinungen der Natur sich in mathematische Gesetze fassen ließen. Denn daran hatte es Platon gefehlt; daß die Natur nur mathematisch zu realisieren sei, hatte er gelehrt; aber wie und wo diese Anwendung der Mathematik anzusetzen hatte, das wußte er nicht; dazu mangelte seiner Zeit nicht nur die Fülle der Tatsachen, sondern auch vor allem das Interesse für diese Richtung der Kultur.
Was wir hier aus der tatsächlichen Entwickelung der abendländischen Kultur als den Plan der Erziehung des Menschengeschlechts mutmaßen, das läßt sich andererseits aus dem Gedankengange Platons erläutern, durch den der Begriff des »Apriori« sich ihm gestaltete. Es kam ihm darauf an, Realitäten aufzufinden, welche die Wirklichkeit der Dinge sicherer verbürgten als der oft täuschende Schein der sinnlichen Erfahrung. Als eine solche Realität hatte ich bisher nur das mathematische Gesetz genannt, weil es für die Möglichkeit der Naturwissenschaft entscheidend ist. Für Platon jedoch als den Schüler des Sokrates , war noch eine andere Realität die ursprünglichere und bestimmende, das war die Idee des Guten , d.h. die Frage nach dem Wesen der Tugend, die ethische Beurteilung. Und diese Realität, welche über die Wirklichkeit der Dinge entscheidet nach dem Werte, den sie in sittlicher Hinsicht als Vorbilder besitzen, sie war es, die für die nächsten zwei Jahrtausende das Interesse der Menschheit vor allem in Anspruch nahm.
Was gut ist, was schön, was vollkommen ist und als Muster gelten soll, das findet sich ja in seiner Reinheit nirgends in der Erfahrung, das ist vielmehr eine Förderung, die an die Erfahrung gestellt wird. Hier also ist ein solches Prinzip der Beurteilung, das der Erfahrung vorschreibt, wie sie sein soll, ein Apriori; Platon nennt es eine Idee, eine Bestimmung, die über dem vergänglichen Sein der sinnlichen Dinge steht. Die Realität der Dinge besteht in ihrer Anteilnahme an den Ideen; inwieweit sie der Idee der Vollkommenheit entsprechen, insoweit sind sie der flüchtigen und nichtigen Erscheinung entzogen und besitzen Dauer. Für den Hellenen aber besteht das Wesen der Vollkommenen, womit das Gute und das Schöne zusammenfällt, in dem harmonisch Maßvollen, in der richtigen Abmessung. Das Maß verbürgt die Zweckmäßigkeit. Insofern also werden die sinnlichen Dinge auf die Realität der Idee Anspruch erheben können, als in ihnen die Bedingung zweckvoller Abmessung erfüllt ist. Die Wissenschaft des Maßes aber ist die Mathematik. Darum sind es nach Platon die mathematischen Beziehungen in den Dingen, welche sie über die Vergänglichkeit der Sinne erheben und ihnen Realität verleihen. In der Gesetzmäßigkeit der Figuren und Zahlen sind die Dinge mit Sicherheit zu erkennen: daher sagt Platon , daß das Mathematische die Verbindung herstelle zwischen den sinnlichen Dingen und den Ideen.
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